|

|
 |
|
|
Canossa
Leseprobe
- 1. und 2. Kapitel
Erster
Teil - Die verratene Kindheit
1.
Kapitel
Speyer 1055
|
|
Es war ein Tag, wie der kleine Heinrich ihn liebte:
Dicke Schichten pulvrigen Schnees bedeckten den
Boden, und vom Himmel tanzten die Flocken herab,
daß es eine Lust war, ihnen zuzuschauen.
Immer wieder fing der Wind sie auf, trieb sie
vor sich her, ließ sie schließlich
frei, so daß sie sich frech auf den rötlich
schimmernden Bart des Vaters niederließen
oder die vermummte Mutter und die frierende Tante
Beatrix bepuderten.
Einige
Flocken legten sich kalt und kitzlig auf Heinrichs
Lippen, er prüfte ihren wäßrigen
Geschmack und versuchte, andere zu fangen. Da
ihm dies selten gelang, nahm er eine Handvoll
Schnee und warf sie auf Mathilde, seine Cousine,
die ihm lachend ein Bein stellte, so daß
sie beide umeinander kugelten.
Die
Erwachsenen wirkten weniger fröhlich als
sie. Der Vater, Kaiser Heinrich der Dritte, schaute
mit tiefgefurchter Zornesfalte auf sie herab und
forderte seinen Sohn barsch auf, sich gesittet
und würdevoll zu verhalten, wie es sich für
einen künftigen Herrscher von Gottes Gnaden
gehöre. Kopfschüttelnd rief Tante Beatrix
»Laß doch die Kinder spielen, freue
dich lieber daran, wie gut sie sich verstehen«
und versuchte, sich freundschaftlich bei ihm unterzuhaken.
Der
Vater knurrte, die Mutter bedachte sie mit einem
verärgerten Blick und forderte die noch immer
im Schnee liegenden Kinder auf, sich endlich zu
erheben. Heinrich sprang empor, zog Mathilde auf
die Beine und wollte zum Hafen vorausrennen. Der
Vater jedoch griff seine Hand und hielt ihn fest.
Als
Heinrich nun den steifen Schritt der Leibwächter
nachahmte und den Kinderfrauen zuwinkte, die ihnen
mit dem restlichen Hoftroß in achtbarer
Entfernung folgten, hatte der Vater hatte offensichtlich
genug von seiner Zappelei: Er nahm seinen Kopf
zwischen die Hände und richtete ihn auf die
riesigen Gemäuer der noch nicht fertiggestellten
Basilika aus, die sich hinter ihnen dunkelmächtig
erhob. Gehorsam ließ Heinrich seinen Blick
wandern über die weißen Hügel,
unter denen sich das Baumaterial verbarg, zu den
Gerüsten, die wie kahle Äste in den
Himmel ragten, und den Steingebirgen, die sich
in schier unendlicher Höhe im weißlichen
Flockengestöber verloren.
»Dies
wird der Dom, der Gottes Größe und
den Ruhm des salischen Geschlechts verkünden
soll«, erklärte der Vater mit ernster
Stimme. »Dein Großvater, Kaiser Konrad,
hat ihn zu bauen begonnen, ich will ihn vollenden,
und du sollst ihn erhalten. Wir alle werden hier
unsere letzte Ruhestätte finden.«
Heinrich
versuchte, brav zu nicken, weil er erwartete,
auf diese Weise von der eisernen Klammer der väterlichen
Hände befreit zu werden. Die Mutter vor ihm
bekreuzigte sich, während Tante Beatrix hell
auflachte und spöttisch rief: »Hoffentlich
ruhen wir noch nicht so bald.«
Abrupt
ließ ihn der Vater los und warf ihr einen
Blick zu, der sie verstummen lassen sollte. Sie
zog die Augenbrauen hoch und schüttelte verständnislos
den Kopf.
Endlich
war Heinrich frei. Doch während Mathilde
einen Purzelbaum nach dem anderen schlagen durfte,
winkte ihn seine Mutter mit verkniffenen Lippen
zu sich und befahl ihm, an ihrer Seite zu bleiben.
Tante Beatrix hatte sich währenddessen erneut
bei dem Vater untergehakt und sprach auf ihn ein:
»Die beiden Kinder passen zusammen, wie
vom Schöpfer füreinander geschaffen.
Ich kann nicht verstehen, warum du dich noch immer
sträubst.«
»Mathilde
ist zu alt für unseren Sohn«, mischte
sich die Mutter ein.
»Das
ist nun wirklich kein Grund, Agnes. Du mußt
zugeben ...«
»Außerdem
sind sie zu nah miteinander verwandt. Darauf liegt
kein Segen.«
Tante
Beatrix verdrehte die Augen.
»Vergiß
nicht«, fuhr die Mutter in ungewohnt belehrendem
Ton fort, »daß die Politik eine Rolle
spielt. Hättest du nicht deinen bärtigen
Gottfried geheiratet ...«
»Es
war eine Heirat aus Liebe, meine Gute. Dies kannst
du vielleicht nicht verstehen, aber dein Gatte
müßte eigentlich ...«
»Ich
will nichts mehr davon hören«, unterbrach
sie scharf der Vater. »Es ist entschieden.«
»Heinrich,
Lieber ...« Die Stimme von Tante Beatrix
wurde samtweich.
»Du
hörst doch, es ist entschieden.« In
den belehrenden Ton der Mutter mischte sich leiser
Triumph.
»Schluß
jetzt!« donnerte der Vater.
Tante
Beatrix löste sich von ihm, stampfte zornig
mit dem Fuß und rief: »Was ist dieser
Mann für ein sturer Ochse!«
»Wie
nennst du mich?«
»Sturer
Ochse!« wiederholte Tante Beatrix auftrumpfend,
wandte sich mit einem hochmütigen Augenaufschlag
von ihm ab und legte betont freundschaftlich den
Arm um die Schultern der Mutter. »Gütiger
Gott, ich müßte ihn ja kennen!«
Vertraulich
führte sie die Mutter zur Seite, die sich
zwar ängstlich nach dem Vater umschaute,
den kleinen Heinrich jedoch einfach stehenließ.
»Wir
müssen gemeinsam ...«, hörte er
Tante Beatrix noch sagen, bevor der Vater ihnen
nachbrüllte: »Dumme Weiber, was versteht
ihr schon von Reichspolitik und Herrschaftssicherung!«
Die
Erwachsenen waren abgelenkt! Heinrich sah eine
Möglichkeit, ihrem allzu bekannten Streit
und dem drohenden Klammergriff des Vaters zu
entkommen: Rasch zog er Mathilde auf die Beine
und rannte, sie hinter sich her ziehend, durch
den tiefen Schnee in Richtung Hafen. Er hörte
die Mutter noch mit schwacher Stimme rufen,
sie sollten zurückkommen, den Vater zornig
seinen Namen schreien. Kurz schaute er sich
um: Zwei Leibwächter setzten sich mitsamt
ihren Schilden und klappernden Rüstungen
in Bewegung, um sie einzufangen. Doch nach wenigen
Schritten rutschte der eine aus, der andere
stolperte über sein Schwert und klirrte
zu Boden. Heinrich mußte, wie auch Mathilde,
lachen und rannte weiter in das dichter werdende
Flockengewirbel. Als er erneut zurückblickte,
sah er nur noch schwache Schemen, die wie Geisterwesen
zu tanzen schienen und deren Stimmen immer wieder
der Wind verschluckte.
Am
Fluß stießen die beiden auf eine
Gruppe von Menschen, die sich, ohne sie zu beachten,
an den eingefrorenen Booten zu schaffen machten.
Lediglich von Hunden wurden sie angebellt. Heinrich
bellte zurück und zog Mathilde lachend
hinter einen Stapel Holz.
»Dein
Vater wird böse sein, wenn wir uns verstecken.
Bei dem Schneetreiben findet uns niemand, und
wir könnten uns verirren.«
Heinrich
fürchtete sich nicht vor dem Verirren;
er war froh, der schlechten Stimmung wie auch
der unablässigen Aufsicht und Erziehung
entronnen zu sein. Außerdem war er gern
mit seiner Spielgefährtin allein. Im Gegensatz
zu seinen braven Schwestern, die entweder am
Rockzipfel der Mutter und der Kinderfrauen hingen
oder vor dem Kamin mit irgendwelchen Stoffetzen
und Holzpuppen festwuchsen, ließ sich
Mathilde auf seine Balgerei ein, sie liebte
Verstecken und Fangen und genoß wie er
den Schnee, obwohl sie bisher in Italien gelebt
hatte, wo es viel weniger schneite, wie Heinrich
bereits wußte.
Sie
alle waren kürzlich aus Mathildes Heimat
an den Rhein zurückgekehrt. Ihr Stiefvater
Gottfried, genannt der Bärtige, der frühere
Herzog von Lothringen, hatte den Kaiser, Heinrichs
Vater, verraten. Dieser war unverzüglich
mit einem Heer über die Alpen geeilt, um
den Abtrünnigen zu bestrafen, und es folgten
einige Kämpfe um Mantua und Canossa. Gottfried
der Bärtige floh ohne Frau und Stieftochter
zu seinem Stammsitz nach Verdun, und weil der
Vater seinen Widersacher nicht fangen konnte,
nahm er Tante Beatrix, die Markgräfin von
Tuszien-Canossa, und ihre Tochter Mathilde als
Geiseln mit nach Deutschland so hatte
er es ihm erklärt. Die beiden Geiseln trugen
allerdings keine Ketten und Fesseln, im Gegenteil:
Sie gehörten zum Hof und speisten mit an
der kaiserlichen Tafel.
Warum
dies alles so war, verstand Heinrich trotz der
väterlichen Ausführungen nicht recht.
Er mußte aber brav ja sagen, als der Vater
ausrief: »Wir sind von Verrätern
umgeben, mein Sohn, die Welt ist eine Grube
voller Schlangen. Nimm dich vor ihnen in acht!«
Ob
er Tante Beatrix meinte oder gar die
Mutter?
»Komm!«
rief Heinrich und rannte los. »Wir verstecken
uns dort hinter den Bäumen.«
Mathilde
folgte ihm zögernd.
Der
Auwald, der sich bis an den Hafen heranschob,
war zur Zeit wie alles im Frost erstarrt. Den
Rhein konnte man zu Fuß überqueren
und auch die Sumpfgebiete betreten.
Heinrich
warf einen letzten Blick zurück. In der
Ferne bewegten sich die Schemen der Leibwächter
und Kammerfrauen. Man rief erneut nach ihnen.
Mathilde wollte antworten, doch Heinrich legte
ihr die Hand auf den Mund, kletterte dann über
krachende Äste und kämpfte sich mit
ihr ein Stück tiefer in den Wald hinein.
Als
die beiden auf eine schmale Schneise stießen,
flüsterte er: »Hast du Angst vor
Wölfen und Bären? Und den bösen
Geistern des Waldes?«
Unsicher
schüttelte sie den Kopf, griff seine Hand
und wollte ihn zurück zum Vater und den
anderen ziehen. Heinrich entzog sich ihr, legte
den Finger auf die Lippen und lauschte. Ein
wattiges Dämmergrau verschluckte das gelegentliche
Fiepen, Rufen oder Schreien verborgener Waldwesen.
Um sie herum ein Gewirr bizarrer Baumglieder,
schräger Äste, abgebrochener Zweige.
Schauten sie genauer hin, entdeckten sie erstarrte
Trolle und Dämonen, die nur darauf warteten,
sich aus dem Hinterhalt auf sie zu stürzen.
»Heinrich,
wir müssen zurück!« Mathilde
zog an seinem Arm.
»Der
Hafen liegt aber dort!« Heinrich wies
in die entgegengesetzte Richtung.
Mathilde
schüttelte den Kopf. Sie zerrte ihn hinter
sich her, begann sogar zu rennen. Als sie, außer
Atem, ein kurze Pause einlegten, hatten sie
den Hafen noch immer nicht erreicht. Aus der
Schneise war ein verlorener Waldpfad geworden.
Sie
hatten sich verlaufen!
In
Mathildes Augen flackerte Panik auf. Wortlos
rannten sie den Weg zurück. Keuchend folgten
sie den eigenen Spuren, bis diese unter dem
fallenden Schnee verschwunden waren. Mathilde
rief nach ihrer Mama, und Heinrich versuchte
zu pfeifen ohne Erfolg.
Die
Schneise mußte doch irgendwohin führen!
Zumindest zum Fluß, über den man
den Hafen gefunden hätte. Stumm stapften
sie, Hand in Hand, durch das Labyrinth des erstarrten
Walds. Heinrich begann zu frieren. Mathildes
Lippen waren blau angelaufen und bewegten sich
im lautlosen Gebet. Aus der Ferne drang ein
langgezogenes Heulen herüber, dem ein zweites
Heulen antwortete. Als wenige Schritte von ihnen
entfernt das Gehölz knackte, schrien sie
vor Schreck auf. Ein schweres dunkles Ungeheuer
erhob sich unter Schnauben und Keuchen. Sie
begannen erneut zu rennen, bis ihnen die Lungen
schmerzten.
Plötzlich
roch Heinrich etwas Vertrautes Rauch!
Die ferne Ahnung eines Feuers, die Wärme
des Kamins! Hatten sie eine menschliche Behausung
erreicht und waren in Sicherheit?
Vor
ihnen öffnete sich eine kleine Lichtung,
und auf einer Aufschüttung duckte sich
eine Hütte, aus deren Dachöffnung
leichter Rauch quoll. Obwohl Mathilde ihn zurückhalten
wollte, stürzte Heinrich laut rufend auf
den Eingang zu: »Öffnet die Tür!«
Er pochte mit seinen Fäusten an das Holz.
Zuerst
hörte man ein unwilliges Stöhnen,
als erwache ein Drache, dann knarrte tatsächlich
die Türe auf. Heinrich war so froh, endlich
der weglosen Bedrohung entronnen zu sein, daß
er seine Ängste vergaß. Mathilde
stand zitternd an seiner Seite, preßte
seine Hand.
Ein
in Pelze gehüllter, zottlig verfilzter
Waldmensch baute sich vor ihnen auf. Vor lauter
Haaren und Bart konnte man kaum ein Gesicht
erkennen.
»Wo
kommt ihr Kinder denn her?« Eine tiefe,
kollernde Stimme. »Seid ihr ausgesetzt
worden?«
»Wir
haben uns im Wald verirrt«, antwortete
Mathilde. »Eigentlich sind wir nur zum
Hafen gerannt ...«
»Zum
Hafen? Der ist weit. Paßt niemand auf
euch auf?« Der Mann schüttelte verwundert
den Kopf. »Dann kommt erst einmal herein
und wärmt euch!«
Vorsichtig
traten sie in einen rauchigen, schwach beleuchteten
Raum. An der Feuerstelle hockten zwei Gestalten,
von denen eine sich hustend erhob. Die andere
drehte einen Fleischspieß und stieß
seltsame Geräusche aus, die wie das Wiehern
eines Esels klangen.
Die
hustende Gestalt, eine in Pelzlumpen gehüllte
Frau, bückte sich zu ihnen herunter und
streifte ihnen die Kapuze vom Kopf, um sie besser
betrachten zu können, lächelte und
entblößte dabei ihre Stummelzähne.
»Ihr seid kalt wie ein Eiszapfen«,
rief sie, schob sie ein Stück zum Feuer
und reichte ihnen einen Becher dampfenden Kräutersuds.
Das
heiße Getränk tat Heinrich gut und
dämpfte die zunehmende Angst. Mathilde
neben ihm klapperte mit den Zähnen. Er
hatte von seiner Amme gehört, daß
in den Wäldern böse Geister, bestrafte
Räuber und fromme Eremiten hausten, außerdem
Hexen, die Kinder fraßen. Er wußte
nicht, ob er ihr glauben sollte. Doch auch der
Vater betonte, nicht ohne zu grinsen, im Wald
müsse ein Mann wie einst Siegfried den
Drachen bekämpfen und sich gleichzeitig
vor Verrätern in acht nehmen, die ihm ein
Speer hinterrücks zwischen die Schulterblätter
stoßen könnten.
Vorsichtig
schaute Heinrich nach dem seltsamen Wesen, das
den Fleischspieß drehte und dessen Gesicht
an einen verdreckten jungen Mann denken ließ,
mit starken Augenbrauen unter einer fliehenden
Stirn und einem Pferdegebiß, das diese
tierischen Laute ausstieß, die wohl Lachen
sein sollten. Hinter seinem Kopf wölbte
sich ein Stiernacken, der in einen riesigen
Buckel überging!
Die
Frau reichte ihnen ein Stück Brot, der
Mann säbelte für sie zwei Scheiben
Fleisch vom Spieß. Heinrich nahm das Brot
und biß hinein. Jetzt erst spürte
er seinen Hunger. Ein zweiter Becher wurde ihm
gereicht, er schlürfte das Kräutergetränk
und spülte das trockene Brot hinunter.
Das Fleisch schmeckte zart und gut.
Allmählich
wagte er, ebenso wie Mathilde, sich genauer
umzusehen. An den Holzwänden hingen neben
Pelzen und Fangeisen eine Kutte, wie sie Mönche
trugen, sowie ein glänzendes Kruzifix;
auf einem in die Wand eingelassenen Regal lagen
mehrere Bücher. Sein Blick blieb an dem
blutverschmierten Blatt einer schweren Axt hängen,
das in einem Holzbock steckte, und jäh
fuhr ihm durch den Sinn: Wenn man sie nur fütterte,
um sie später zu schlachten und verschlingen
zu können ...?
»Wer
seid ihr?« fragte der zottlige Mann, der
ihnen geduldig beim Essen zuschaute.
Heinrich
schluckte seinen letzten Bissen Brot, richtete
sich auf und erklärte: »Ich bin König
Heinrich.«
Bevor
er ergänzen konnte: »Der Sohn des
Kaisers«, brach der Zottelmann mitsamt
seiner Frau in Gelächter aus. »O
guter Gott, der König! Welcher Wink des
Schicksals!« Er prustete vor Lachen. Der
bucklige Stiernacken wieherte mit.
»Allerdings
ein wenig geschrumpft«, stieß der
Waldmensch aus, noch immer lachend. »Zwei
Königskinder, und sie sind zusammen gekommen,
verloren und hungrig!« Er versuchte, wieder
ernst zu werden, und bückte sich zu ihnen
herab: »Und wer bin ich, ihr Engelchen?«
Spott stand in seinen Augen, als er vor Heinrich
das Segenszeichen machte, sich reckte und ausrief:
»Ich muß der Papst sein!«
2. Kapitel
Speyer 1055
Vor
Kälte und überstandenem Schrecken
zitternd, lag Mathilde in ihrem weichen Nachtlager
aus Stroh unter mehreren Schichten schwerer
Wolldecken. Die Mutter an ihrer Seite hatte
ihre Hand gehalten, schien jedoch eingeschlafen
zu sein und schnarchte leise. Eine kleine Kerze
flackerte vor sich hin und ließ an den
kahlen Wänden Gespenster tanzen. Mathilde
hatte alle Gebete und Psalmen, die sie auswendig
wußte, aufgesagt, aber Gott der Herr,
den sie aus den Tiefen ihrer blutigen Schrecken
rief, schien ihre verängstigte Stimme zu
überhören. ER vertrieb die Gespenster
nicht, die Bilder von dunkel aufsaugenden oder
in grellem Weiß überstrahlten Wäldern,
vor ihren Augen sirrten Pfeile von der Sehne,
drangen tief ins Fleisch, und Blut schrieb eine
Botschaft in den Schnee, die sich langsam im
Flockengestöber verlor, als der Leichnam
hinweggezerrt wurde.
Mathilde
hatte, als sie sich in der Hütte aufwärmten,
dem zottligen Alten zu erklären versucht,
wer sie waren und warum sie sich verirrt hatten,
und ihn anschließend gebeten, sie zurück
zum Hafen oder zur Pfalz zu bringen. Sie versprach
ihm eine Belohnung und drängte zur Eile,
weil sie genau wußte, daß man sie
verantwortlich machen würde für das
Verschwinden im Wald. Er reagierte auf ihre
Bitten nicht, obwohl er freundlich blieb. Seine
Frau entblößte ihre Zahnstummel wie
eine höhnisch grinsende Hexe. Der Bucklige
hatte das Fleisch vom Spieß gezogen und
schlug sein Pferdegebiß hinein.
Heinrich
schaute ihm beim Vertilgen seiner Fleischbrocken
zu und wärmte seine Hände am Feuer.
Die Frau kroch plötzlich nah an die beiden
Kinder heran, studierte forschend ihre Gesichter,
beobachtete anschließend die Flammen wie
den Rauch und drückte die Holzscheite mit
einem Stecken auseinander. Als die Flammen sich
niederduckten und in das Holz zurückziehen
wollten, befahl sie den Kindern, zu pusten.
Erneut flackerte das Feuer auf, der Rauch kräuselte
und wand sich empor, bis er unter dem Dach in
Schwaden hängenblieb, schließlich
jedoch durch den Rauchabzug emporgerissen wurde
in den unsichtbaren Himmel.
»Seht
ihr, wie die Flammen sich zueinander neigen,
als wollten sie sich verschlingen?« rief
die Frau.
Mathilde
preßte ihre Hände vor die Brust und
bekreuzigte sich knapp.
Die
Frau lachte, hustete, krächzte schließlich:
»Eure Schicksale sind miteinander verwoben
wie die Flammen der beiden Holzscheite; über
ihnen liegt ein dunkler Schatten wie der Rauch,
der nicht abziehen will ...«
»Schluß
jetzt, Weib!« Der Mann stieß seine
Frau zur Seite, half den Kindern auf und gab
dem Buckligen einen Wink mit dem Kopf.
Mathilde
warf sich in dem knisternden Lager herum und
suchte den Blick ihrer Mutter, deren Augen geschlossen
blieben. Das Zittern hatte nachgelassen, doch
noch immer tanzten die Gespenster, die Kerzenflamme
flackerte, als striche ein unsichtbarer Nachtalp
vorbei, ein kleiner Rußfaden ringelte
sich an die Decke ...
Das
Schneien hatte geendet, als der Bucklige mit
ihr und Heinrich die Hütte verließ.
Seine Mutter hatte ihm einen dicken Pelz über
den Rücken geworfen und seinen Kopf unter
einer Kapuze verschwinden lassen. Während
sie losstapften, schnaubte er durch die Nase,
warf den Kopf nickend nach vorne und wieherte.
Auch schien er zu humpeln. Er eilte, sich auf
einen langen Stecken stützend, voraus,
winkte mit fahrigen Bewegungen, um mit ihnen
von dem Waldpfad abzubiegen und sich krachend
einen Weg durch das Unterholz zu bahnen. Einmal
schlug er mit seinem Stecken wild gegen einen
Baumstamm und brüllte unartikulierte Laute,
wies ins Dickicht, in dem Mathilde jedoch nichts
erkennen konnte.
Als
sie auf einer Eisfläche zu Boden rutschte,
stand er plötzlich breitbeinig über
ihr, ließ sich auf die Knie fallen und
drückte sie, völlig unerwartet, in
den Schnee. Das verunstaltete, schwachsinnig
grinsende Gesicht näherte sich ihr, aus
seinem Mund lief der Speichel. Mathilde stieß
einen Schrei aus. Schon preßte ihr der
Bucklige seine Lippen auf den Mund, seine Hand
glitt ihren Körper hinab. Nach einem Augenblick
gelähmten Schreckens versuchte sie, seinen
Kopf wegzudrücken. Heinrich, der zu begreifen
schien, was geschah, stürzte sich auf ihn
und schlug ihm mit seinen kleinen Fäusten
auf den verkrüppelten Rücken.
Der
Angegriffene schien sich zu besinnen, packte
Mathilde an ihrem wollenen Rock, riß sie
hoch, und ehe sie sich versah, hatte er sie
wie einen Sack geschultert. Sie strampelte mit
den Beinen und schlug auf ihn ein. Unter ihr
Heinrichs aufgerissene Augen. Kaum war sie über
den Buckel wieder nach unten gerutscht, wurde
ihr so schlecht, daß sie sich übergeben
mußte. Als Heinrich erneut begann, auf
den Verrückten einzuschlagen, fiel dieser
auf die Knie, streckte ihnen die Hände
flehend entgegen und spuckte wimmernde Laut
aus. Heinrich wich zurück. Sofort sprang
der Bucklige auf die Füße, griff
nach ihren Armen und zerrte sie durch den Wald,
ohne darauf zu achten, daß sie sich an
Ästen Beulen und Schrammen holten. Schon
hörten sie Stimmen, brachen durch ein letztes
Dickicht und entdeckten die erlösenden
Retter.
Der
Kaiser stürzte inmitten seiner Suchmannschaften
herbei, stieß die Umstehenden zur Seite,
riß seinen Sohn an sich, heulte auf vor
Erleichterung und Glück; er nahm ihn auf
den Arm und küßte ihn, hob auch Mathilde
hoch und bedeckte sie mit feuchten Bartküssen.
Als er den Buckligen entdeckte, verzerrte sich
sein Gesicht, er setzte die beiden wieder ab
und schrie auf ihn ein. Der Bucklige wich grinsend
zurück, entblößte seine Zähne,
schnaubte und stöhnte ängstlich, humpelte
davon, stürzte in den Schnee, raffte sich
auf ...
»Bleib
stehen!« schrie der Kaiser ihm nach. »Ich
will mit dir sprechen!« Als der Bucklige
nicht reagierte, begann er zu toben: »Hast
du nicht gehört, du verkrüppelter
Hurensohn?«
Der
Bucklige stolperte wie ein gehetztes Tier auf
den Waldrand zu.
»Holt
ihn! Ich will ihn haben! Lebendig oder tot!«
Alle
stürzten sie los. Die Hunde zerrten an
den Leinen. Zwei berittene Leibwächter
gaben ihren Pferden die Sporen, um dem Flüchtenden
den Weg abzuschneiden. Ein Schütze nahm
seine Armbrust, zielte sorgfältig und schoß.
Der Pfeil drang tief in den Rücken des
Buckligen. Der Länge nach stürzte
er in den Schnee, kroch auf allen Vieren vorwärts,
bäumte sich mit einem ersterbenden Schrei
noch einmal auf und rührte sich nicht mehr.
Stumm
vor Entsetzen hatte Mathilde, Heinrich an der
Hand, zusehen müssen. Voller Angst, ein
strafender Gott könnte sie augenblicklich
von der Erde vertilgen, stapfte sie mit den
anderen auf den Toten zu und beobachtete, wie
der Schnee neben seiner Brust sich rot zu färben
begann.
Später,
als die Hofgesellschaft gemeinsam zu Abend speiste,
wurde bereits wieder gelacht. Lediglich die
Mütter blieben wortkarg und ernst, und
in Heinrichs Augen hielt sich der Schrecken.
Er aß kaum etwas und wurde bald zu Bett
geschickt, während Mathilde zitterte, als
hätte ein Dämon ihre Hand verhext,
und keinen Bissen herunterwürgen konnte.
Sie sah den Pfeil im Rücken des Toten stecken,
auch jetzt noch, während sie wachlag, mit
heftig schlagendem Herzen, umtanzt von höhnischen
Gespenstern, und sie sah einen weiteren todbringenden
Pfeil, einen dahingestreckten Körper und
Blut, das das Wasser einer fröhlich gluckernden
Quelle rötlich färbte.
Quälende
Erinnerungen, die sich unter einem oberflächlichen
Vergessen versteckt hielten, waren wieder aufgetaucht.
Vor Jahren hatte der elterliche Hof in den Wäldern
westlich von Mantua eine große Wolfsjagd
veranstaltet. Als die Hörner das Ende der
Jagd verkündeten, war der von ihr innig
geliebte Vater nicht zum Lager zurückgekehrt.
Man suchte ihn hektisch, und als man ihn entdeckte,
stürzte sie als eine der ersten zu ihm:
Da lag er, mit dem Kopf im blutigen Wasser einer
Quelle, und in seinem Rücken steckte ein
vergifteter Pfeil. Sonst schien er unverletzt,
seine grauen, gelichteten Haare, mit denen Mathilde
als kleines Kind so gern gespielt hatte, kräuselten
sich im Nacken.
Nie
wurde aufgeklärt, wer Bonifacio von Canossa
heimtückisch getötet hatte, kein Schuldiger
bestraft und zur Hölle geschickt. Doch
gab es Gerüchte, die so unerträglich
waren, daß Mathilde sie nie wirklich wahrzuhaben
wagte.
Dieser
Mordanschlag riß sie aus dem Glück
ihrer frühen Jahre, verfolgte sie in ihren
Nächten, brachte ihr andauerndes Fieber,
entfremdete ihr die Mutter, die nur verhaltene
Trauer zeigte und bald darauf ihren entfernten
Vetter Gottfried den Bärtigen heiratete,
den ehemaligen, vom Kaiser abgesetzten Herzog
von Lothringen, der seinen Herzogsrivalen ermordet
hatte und dafür lange eingesperrt worden
war sie heiratete ihn heimlich, ohne
den Kaiser gefragt zu haben, der aber seine
Zustimmung hätte geben müssen und
der daher mit einem Heer die Ebene des Po heimsuchte,
Mantua einschloß, Canossa belagerte, die
Mutter gefangennahm. Der Stiefvater hatte sich
mit seinem vierzehnjährigen Sohn feige
in sein Stammland abgesetzt. Dies hätte
ihr richtiger Vater nie getan.
Ihre
Mutter Beatrix und sie hatten Kaiser Heinrich
mit kleinem Gefolge nach Deutschland begleiten
müssen. Der Kaiser, ein direkter Vetter
ihrer Mutter, erinnerte sie beunruhigend an
den eigenen Vater. Nicht allein wegen der jähzornigen
Ausbrüche oder wegen des gezwirbelten Bartes,
auch wegen seines Lachens und weil er sie gerne
an die Brust drückte und abküßte,
ihr abschließend einen zärtlichen
Klaps gab was ihn nicht daran hinderte,
Augenblicke später wie ein tollwütiges
Tier zu toben und auf alle, die sich in seine
Nähe wagten, loszuprügeln, sogar auf
Tante Agnes und seine Töchter, selten allerdings
auf seinen Sohn Heinrich und ihre Mutter Beatrix.
War die Wut verraucht, entschuldigte er sich
mit brüchiger Stimme.
Auch
diesmal hatte er dem vom Pfeil tödlich
Getroffenen noch einen Fußtritt gegeben,
dann den Pfeil aus dem Buckel gerissen, seine
Hände auf das aus der Wunde sprudelnde
Blut gepreßt, sich selbst verflucht und
den allmächtigen Vater im Himmel um Hilfe
angefleht.
Der
Bucklige jedoch, das Gesicht im Schnee verborgen,
wurde nicht wieder lebendig.
»Mama!«
rief Mathilde leise. Sie hatte sich aufgerichtet
und sah die Kerze langsam erlöschen.
Ihre
Mutter schlug die Augen auf.
»Ich
habe Angst!«
Die
Mutter suchte nach einer zweiten Kerze und entzündete
sie an den letzten Zuckungen der Flamme.
»Ich
kann nicht schlafen.« Mathilde preßte
sich an ihren warmen Körper. »Der
Bucklige ...«
»Es
war eine Sünde, ihn zu töten. Gott
wird den Schuldigen strafen.«
»Er
hat mich mit seinem Pferdegebiß geküßt.
Wollte er mich wirklich ...?«
»Vergiß
ihn! Er hat für seine Tat gebüßt.«
»Mama,
ich muß an Papas Tod denken.«
Der
Körper ihrer Mutter verspannte sich, und
sie stieß Mathilde von sich. »Ich
will nichts davon hören! Es war schwer
genug damals. Zuerst das unglückliche Sterben
deines Vaters, dann gingen deine beiden älteren
Geschwister zu den Engeln ... Aber Gott hat
uns beauftragt, weiter zu leben, selbst wenn
es mitunter schwerfällt. Ich bin noch nicht
alt, vielleicht erhört die gnadenreiche
Jungfrau mein Flehen ... Du hast einen neuen
Vater, von dem wir zur Zeit leider getrennt
leben müssen ... sogar einen neuen Bruder
...« Ihre Stimme wurde leiser, unsicher.
Mathilde
spürte ein Würgen im Hals. Jedesmal
erfaßte sie Übelkeit, wenn sie an
ihren Stiefbruder dachte den alle Gottfried
den Buckligen nannten. Die heutigen Geschehnisse
hatten ihren schuldbeladenen Widerwillen nur
verstärkt.
Sie
atmete langsam und tief, bis das Würgen
nachließ, und versuchte, an etwas Schönes
zu denken, zum Beispiel an die Schneeballschlachten
mit Heinrich, die im Gelächter erstickten,
wenn sie sich im weißen Pulver balgten
und schließlich atemlos aufeinander lagen.
Oder daran, wie sie im Hof mit den Hundewelpen
spielten. Heinrich liebte Hunde und ging sogar
mit den großen, bissigen unbefangen um.
Er liebte überhaupt alle Tiere und beobachtete
sie stundenlang. Da er bereits pfeifen konnte,
versuchte er den Vogelgesang nachzuahmen und
freute sich königlich, wenn sie ihm zu
antworten schienen. Oder er begab sich in die
Pferdeställe und sang den ihn neugierig
anschauenden Reittieren ein Kinderlied vor.
Dann fütterte er sein Pony, auf dem er
gut und ausdauernd reiten konnte, mit Rüben
und kraulte seine Ohren. Im Frühling waren
sie über summende und duftende Wiesen spaziert,
sie flocht Heinrich eine Krone aus Maßliebchen,
Margeriten und Löwenzahn, er nannte sie
meine geliebte Frau Gemahlin und Kaiserin, und
Arm in Arm stolzierten sie, sie einen Kopf größer
als er, zu den Eltern. Alle mußten sie
lachen, ihre Mutter und Tante Agnes, die Kanzler
und Notare, sogar die Erzbischöfe. Nur
der Kaiser nicht: Er blieb ernst, runzelte die
Stirn, schüttelte den Kopf, als wollte
er einen unangenehmen Gedanken verscheuchen.
Im Grunde, so fand Mathilde, schaute er nicht
böse, sondern traurig.
»Ich
werde doch einmal Heinrich heiraten, nicht wahr?
Papa hat mir immer versprochen, daß ich
Kaiserin werde.«
Die
Mutter antwortete nicht.
»Mama
...?«
»Der
Kaiser bestimmt, wen Heinrich heiratet.«
»Ich
mag ihn, obwohl er jünger ist als ich.«
»Ich
weiß, mein Kind.« Sie seufzte.
Mathilde
mochte ihn wirklich, den Kleinen er lachte
so ansteckend und war immer fröhlich, und
wenn sie ihn tadeln mußte, dann schaute
er unter seinen widerspenstigen Haaren so schelmisch,
daß sie ihm nie böse sein konnte.
Schon die großen blauen Augen, die seine
Mutter stets hervorhob, blickten in die Welt,
als könnten sie kein Wässerlein trüben,
dabei waren sie gar nicht richtig blau, sondern
eher graugrün, sie hatte die Iris genau
betrachtet und singen konnte er nicht
nur die Gutenachtliedchen der Amme, sondern
auch Kinderlieder aus Aquitanien, die Tante
Agnes gern vor sich hinsummte, wenn sie vor
ihrem Stickzeug saß.
»Er
hat die Stimme eines Engels«, hatte Mathildes
Mutter einmal zur Kaiserin gesagt, als Heinrich
mit klarem Gesang in das Summen eingefallen
war, und Tante Agnes Augen hatten sich
mit Tränen gefüllt.
»Mama
...«
»Mein
Kind nun hör doch: Solange wir Geiseln
sind ...« Als wisse sie nicht mehr, was
sie sagen wollte, unterbrach sie sich und zog
Mathilde erneut an ihre warme Brust. Ihre Stimme
wurde weich: »Ich werde noch einmal mit
dem Kaiser sprechen obwohl er mir und
insbesondere deinem Stiefvater gegenüber
mißtrauisch ist. Im Grunde kann ich ihn
verstehen. Ich denke, er hat bereits andere
Pläne ...« Sie schaute nachdenklich
in die Kerzenflamme. »Es gäbe keine
bessere Lösung ach, mein Mädchen,
wenn du wüßtest ...«
|
|
|
|
|