Er
vergißt nicht den stahlblauen Himmel, wenn der
Mistral eisig weht, er riecht noch den Duft von
Thymian und Lavendel, von Rosmarin und Pinienharz,
und er sieht hellgelb den blühenden Ginster leuchten.
Zypressen und Wacholder ragen an den Wegen auf,
und im Schatten einer Schirmpinie läßt sich träumen.
|
Es
ist eine Landschaft, die trotz ihrer touristischen
Aufbereitung nicht ganz ihr Geheimnis verloren
hat, ihre verborgene Seite, die derjenige
erlebt, der sie durchwandert, der in der
Abenddämmerung auf dem alten Friedhof von
Oppède steht, am Rande der Burgruine, und
auf die grauen Felsen schaut, die wie verlassene
Stelen sich aus dem Dunkel der Vegetation
erheben, Totensteine einer verflossenen
Zeit, verwitterte Erinnerungen ...
|
Dem
Geheimnis des Luberon bin ich vor Jahrzehnten
begegnet, und es hat mich immer wieder angezogen.
Anfang der achtziger Jahre durfte ich ein Jahr
am Fuße der Montagne Sainte-Victoire leben, in
der Nähe von Aix-en-Provence, und bei meinen Streifzügen
durch die Landschaft und die Geschichte der Provence
fand ich Zeugnisse eines großen Verbrechens, das
im Jahre 1545 begangen wurde an den Waldensern,
den Anhängern des Petrus Waldus, die sich die
Armen Christi nannten und die ihre Gegner als
Ketzer denunzierten und schließlich blutig verfolgten.
Wer diesem Verbrechen nachgeht, stößt auf einen
Mann, der maßgeblich daran beteiligt war: Jean
Maynier, Baron d'Oppède, Erster Präsident des
parlement von Aix, des Obersten Gerichtshofs der
Provence.
Viel erfuhr ich nicht von dem Schicksal dieses
Mannes, seines Sohnes und der von ihm vergeblich
geliebten Frau, aber was ich erfuhr, hat mich
sofort fasziniert. Es gibt mehrere Versionen ihrer
Lebensgeschichte. Sie scheinen sich zu widersprechen
und passen doch zusammen wie die unterschiedlichen
Versionen alter Mythen. Ich wußte, ich war auf
eine Geschichte gestoßen, die ich erzählen mußte,
und machte mich sofort daran, ihre Grundzüge und
einige Szenen zu entwerfen. Es dauerte dann aber
noch fünfzehn Jahre und weitere Entwürfe, bis
die Geschichte sich so entfaltet hatte, daß ich
endgültig den Roman schreiben konnte.
Vielleicht halfen auch die Erzählungen am nächtlichen
Kamin ...
In
den vergangenen Jahrhunderten haben die Nachfahren
der verfolgten Waldenser, die Nachfahren der Überlebenden,
die Erinnerungen an die Ereignisse der "blutigen
Woche" zu vergessen versucht - aber es gelang
ihnen nicht. Und dies war gut so. Immer wieder
drängte sich das Geschehen ihnen auf.
Zu
später Stunde, in der alten Mühle von Oppède,
begann plötzlich eine alte Frau zu erzählen,
und da war von verschmähter Liebe die Rede,
von Neid und Eifersucht, von dem unglücklichen
Ende eines jungen Mädchens und von Glaubensstreitigkeiten,
die in rachsüchtige Verfolgung umschlugen.
|
|
Als
würde der dramatische Kosmos des William Shakespeare
vor mir ausgebreitet, hörte ich von der Liebe
zwischen verfeindeten Familien, von dem Versuch
eines Sohnes, sich vom Glauben seines Vaters zu
lösen, und von dessen unerbittlichem Fanatismus.
Und ich hörte die Geschichte einer starken, mutigen
Frau, die in nie nachlassender Beharrlichkeit
versuchte, der Gerechtigkeit endlich doch zum
Sieg zu verhelfen.
Von
der historischen Wahrheit und der Phantasie des
Erzählers
Als
ich den Roman entwarf, merkte ich schnell, daß
ich die Ereignisse und Figuren, soweit sie in
die Geschichtsbücher eingegangen sind, nicht zu
verändern brauchte. Die Schlachten von Marignano
und Pavia haben stattgefunden, es gab König François
und Kaiser Karl mit ihren lebenslangen Kriegen,
es gab den Einfall des Charles de Bourbon in die
Provence und, zwölf Jahre später, den zweiten
Einfall der kaiserlichen Heere, der durch eine
grausame Politik der verbrannten Erde abgewehrt
wurde. Es gab auch Papst Paul III. Farnese und
seinen Enkel Alessandro, das Hochzeitsfest von
Marseille und den Waffenstillstand von Nizza mitsamt
seiner nassen Begleiterscheinung. Sogar der Lehrer
Hugues Berthon aus Lourmarin ist historisch belegt,
ebenso der Inquisitor Jean de Roma und die Ketzerverbrennungen
auf der Place des Jacobins in Aix, und natürlich
war es der Baron d'Oppède, der das Arrêt de Mérindol
durchsetzte und dann die Soldateska höchstpersönlich
anführte, der sich vor dem parlement von Paris
für ihre Verbrechen rechtfertigen mußte, freigesprochen
wurde und im Jahre 1558 qualvoll starb - wahrscheinlich
an Gift.
Man weiß zwar, daß Jean Maynier, der Baron d'Oppède,
einen Sohn hatte, der sich von seinem Vater abwandte,
zum Protestanten wurde und dann nach Deutschland
ging, aber Einzelheiten sind unbekannt. Die Familie
Cental (je nach ihren Besitzungen und ihrer Herkunft
hatten ihre Mitglieder unterschiedliche Namen,
auch mehrere) besaß fruchtbare Böden im Süden
des Luberon und im Piemont, sie hatte waldensische
Familien aus den Alpentälern auf ihre Ländereien
geholt und neigte vielleicht selbst den evangelischen
Glaubensvorstellungen zu. Eine ihrer Frauen wurde
von Jean Maynier vergeblich geliebt und später
gehaßt, eine Tochter soll sich vom Schloßturm
gestürzt haben, weil ihre Liebe zu dem Sohn des
Barons für zwei Verwandte tödliche Folgen hatte,
ja, sie soll sogar vom Vater begehrt worden sein:
Was Legende, was historische Wahrheit ist, läßt
sich heute nicht mehr entscheiden. Aber man weiß,
daß Madame de Cental nach dem Massaker an den
Waldensern den Kampf gegen den Baron d'Oppède
aufnahm, vor dem König Wiedergutmachung forderte
und einen Prozeß gegen den Ersten Präsidenten
des parlement der Provence anstrengte. Seinen
Ausgang brauchte ich nicht zu erfinden.
Inspirationsquelle
für Madeleine,
die "Provençalin" |
Über
die Familie der Cental weiß man insgesamt
nicht genug, als daß sich ein plastisches
Bild, eine in sich stimmige Geschichte ergäbe.
Daher verfuhr ich mit Madeleine (deren Vorbild
Mérite de Trivulce hieß) freier und verknüpfte
das, was mir bekannt war, mit dem, was ich
dramaturgisch und romantechnisch für notwendig
hielt.Die meisten anderen Figuren haben
weitgehend erfundene Lebensgeschichten.
Die in dem Roman erwähnten Orte und ihre
Schlösser bzw. Ruinen - Oppède, Ménerbes,
Lourmarin, La Tour d'Aigues - faszinieren
uns noch heute; von ihrem Augenschein und
den vorhandenen Bildern aus früheren Zeiten
habe ich mich leiten lassen (müssen); von
ihrem Aussehen vor den Zerstörungen und
Umbauten aus den Jahren nach 1545 besitze
ich keine oder kaum Unterlagen.
|
Über das Leben der (insbesondere römischen) Kurtisanen
berichtet eine hervorragende Studie, die nicht
nur ihren Alltag anschaulich schildert, sondern
auch zeigt, daß die erfolgreichen von ihnen zu
den emanzipierten Frauen der damaligen Zeit gehörten.
Die Werke der Renaissancemaler zeigen viel von
dem Aussehen und der Kleidung, auch von dem Leben
der Menschen aus den höchsten Gesellschaftsschichten.
Die großen Feste wurden in allen Einzelheiten
festgehalten. Über das Massaker des Jahres 1545
gibt es ein "Protokoll", und der Hauptankläger
des Prozesses gegen Jean Maynier hat minutiös
Zeugenaussagen zusammengetragen, so daß man sich
von den Vorgängen der "blutigen Woche" ein relativ
genaues Bild machen kann.
Sprache
Was
den Erzählstil angeht, traf ich eine klare Entscheidung:
Ich wollte jeglichen Versuch vermeiden, mich künstlich
einer früheren Sprachform oder Schreibweise anzunähern,
also weder das Lutherdeutsch nachzuahmen noch
die pathetische Altertümelei des Professorenromans
aus dem 19. Jahrhundert zum Vorbild zu nehmen.
Gleichzeitig vermied ich - allerdings nicht stur
- allzu auffällige Modernismen. Die meisten Wörter,
die ich verwende, gab es in der gegenwärtigen
Bedeutung schon im 16. Jahrhundert. Heute weitgehend
unbekannte Begriffe aus der damaligen Zeit, zum
Beispiel für Kleidungsstücke, ließ ich aus oder
ersetzte sie durch ein bekanntes Wort.
Verzichtet habe ich, wenigstens weitgehend, auf
Einsprengsel aus der Originalsprache des Schauplatzes,
also aus dem Provençalischen, dem Französischen
oder Italienischen. Erhalten werden mußte dagegen
ein Begriff wie arrêt, für den es keine Entsprechung
im Deutschen gibt. Den Terminus parlement übersetzte
ich regelmäßig mit Oberster Gerichtshof (was seiner
Funktion in meinen Augen am nächsten kommt).
Als einzige Originalsprache im Text blieb Latein,
das heißt: Texte aus der katholischen Liturgie
und der Bibel. Dies schien mir deswegen angebracht
zu sein, weil Latein als die Sprache der Kirche
(und der Gebildeten) allgegenwärtig war, auch
wenn sie von vielen nicht verstanden wurde. Um
es dem Leser leichter zu machen, folgt dem lateinischen
Originalzitat - als eine Art Bewußtseinsecho -
die Übersetzung, es sei denn, die Bedeutung geht
aus dem Kontext eindeutig hervor.
Quellen
und Gewährsleute
Um
das Milieu und den historischen Hintergrund einigermaßen
genau zu schildern, bedurfte es intensiver Studien.
Die Informationen über Essen und Trinken, Kleidung
und Wohnen, Reisen und Handeln, Denken und Glauben
suchte ich mir aus vielen Nachschlagewerken, kulturgeschichtlichen
Darstellungen und (Auto-)Biographien zusammen.
Einigen Werken verdanke ich allerdings viel. Da
ist René Guerdans Biographie von Franz I. zu nennen,
die gleichzeitig eine hervorragende Einführung
in das Frankreich dieser Zeit ist. Monica Kurzel-Runtscheiners
Monographie "Die Töchter der Venus. Die Kurtisanen
Roms im 16. Jahrhundert" wurden schon erwähnt.
Hervorheben möchte ich auch die Untersuchungen
Gabriel Audisios, der an der Universität von Aix
lehrt und sich ganz besonders dem Schicksal der
Waldenser gewidmet hat. Von ihm gibt es nicht
nur eine Geschichte der Waldenser, die inzwischen
auf Deutsch erschienen ist, sondern auch die unverzichtbare
Darstellung "Les vaudois du Luberon. Une minorité
en Provence (1460-1560)".
Außerdem
hat er die historischen Darstellungen
des Massakers von 1545 herausgegeben ("Procès-verbal
d'un massacre" und die "Histoire de l'exécution
de Cabrières et de Mérindol et d'autres
lieux de Provence" von Jacques Aubéry,
dem Ankläger des Prozesses gegen Jean
Maynier). In das Frankreich der frühen
Neuzeit führen Jean Meyers "Frankreich
im Zeitalter des Absolutismus. 1515-1789"
und Ilja Miecks "Die Entstehung des modernen
Frankreich. 1450 bis 1610" ein.
|
|
Hilfreich waren Kunstbände und allgemein Bilddarstellungen.
Mein (sicher subjektives) Porträt Alessandro Farneses,
des späteren Papst Paul III., ist ohne Tizians
Bilder nicht denkbar (und auch nicht ohne Roberto
Zapperis Büchlein "Die vier Frauen des Papstes").
Bei der Darstellung der Glaubensstreitigkeiten,
der religiösen Themen überhaupt, beschränkte ich
mich weitgehend auf Fragestellungen und Probleme,
die auch heute noch religiös interessierte oder
von religiös-philosophischen Fragen berührbare
Menschen beschäftigt. Zu bedenken ist, daß die
katholische Kirche vor dem Konzil von Trient sich
wesentlich freier in der Gestaltung von Liturgie
und geistlichem Leben verhielt als in den späteren
Jahrhunderten und heute.
Ich hoffe, daß sich nicht allzu viele historische
Ungenauigkeiten in den Roman eingeschlichen haben.
Bei meinen Recherchen stieß ich immer wieder auf
Widersprüche, und bei den Übertragungen aus anderen
örtlichen und zeitlichen Zusammenhängen mußte
ich häufig meine erzählerische Phantasie und mein
Einfühlungsvermögen walten lassen. Letztlich sind
aber Anachronismen, die sich nicht vermeiden lassen,
irrelevant, denn im Vordergrund stehen die Menschen
und ihre Schicksale, und ob diese ergreifen, hängt
nicht von historischen Details ab.
Insgesamt erstaunte mich immer wieder, wie "modern"
die ausgehende Renaissance auf uns Heutige wirkt:
in ihrem Individualismus, der leicht in mörderische
Feindseligkeit umschlagen konnte, in ihrem freiheitsbetonten
Hedonismus, aber auch in der Geldgier und der
Lust an schönen Dingen und nicht zuletzt in ihrer
erstaunlichen Kreativität. In ihr können wir uns
beispielhaft erkennen bei unserem anhaltenden
Versuch, die conditio humana durch das Erzählen
von Geschichte und Geschichten zu begreifen.
|