Fritz H.
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U und E
oder:
Wann wird Unterhaltung zur Literatur?

 (In: "Federwelt" 2017)

 

Es ist schon eine Weile her, da schickte ich ein Romanmanuskript über eine Vater-Tochter-Geschichte an eine der renommiertesten Verlagsagenturen in Deutschland und bat um Begutachtung und, im positiven Fall, um Vermittlung.

Die Antwort war freundlich, auch was das Manuskript betraf, dennoch ablehnend. Die Begründung: „Zu anspruchsvoll für pure Trivialliteratur, nicht literarisch genug für die literarischen Programm der gängigen Verlage.“

Ich saß mit meinem Roman also zwischen zwei Stühlen, und diese beiden Stühle hatten die sich damals auch im Literaturdiskurs einbürgernden Label U und E. U stand für Unterhaltung, für Trivialliteratur, für Genre und „kommerzielle“ Romane, E für die „eigentliche“, „ernsthafte“, „seriöse“, „literarische“ Literatur, für Hochkultur, für das, was in den Feuilletons der anspruchsvollen Zeitungen und Zeitschriften besprochen, was Preise erzielt und in den akademischen Seminaren untersucht wurde. U wurde, um Lessing abzuwandeln, gern gelesen, E wurde gelobt  – und deutlich weniger verkauft.

 

Nun war mir die Unterscheidung seit meiner Schulzeit durchaus geläufig. Damals, zu Beginn der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, galt die sogenannte Trivialliteratur als leicht, mehr noch: als seicht und nichts wert, verkaufte sich zwar gut, wurde aber allerhöchstens akzeptiert als Lesestoff für die kulturell Anspruchslosen, für die Unterschichten und „Ungebildeten“ oder, um einen weiteren Agenten zu zitieren, als bloßes „Konsumfutter“. Wir, die wir uns die stilistischen Eigenheiten und Darstellungsformen der Hochkultur aneignen mussten (von Goethe bis Thomas Mann, von Franz Kafka bis Günter Grass), schauten verächtlich auf Heinz Konsalik, Johannes M. Simmel, Utta Danella und warfen sie, von unseren Lehrern angeleitet, alle naserümpfend in den Topf „trivial“. „Echte“ Literatur waren die Klassiker, die sich durch Geschichtsresistenz auszeichneten, waren die Romane der Moderne, welche die Gegenwart nicht „einfach 1 zu 1 abbildeten“, sondern durch Kunstgriffe verfremdeten. Die seriöse Literatur bewies ihren Wert durch experimentelle, verschlüsselte, „widerständige“ Formen, war „sprachmächtig“ und „selbstreflexiv“, nahm wenig Rücksicht auf die Unterhaltungsbedürfnisse ihrer Leser, war auf jeden Fall nicht „eingängig“. Sie verachtete Konventionen und tradierte Formen. Sie war, um mit Ezra Pound zu sprechen, „Neues, das neu bleibt“. Originalität war einer ihrer höchsten Werte, und darüber hinaus war sie auch nicht „affirmativ“, sondern in ihrem Herzen antibürgerlich, sozialkritisch. Sie war und wollte „schwierig“ sein. Was nicht verstanden wurde oder nur mit professioneller Hilfe zu verstehen war (nehmen wir James Joyce‘ Ulysses als Beispiel), galt als das Non-plus-ultra der Literatur.

Hinzu kam etwas, was damals eine größere Rolle als heute spielte und was die wertenden Begriffe bereits erahnen lassen: Die Lektüre und Kenntnis von anspruchsvoller Feuilleton-Literatur zeigte einen hohen Bildungsgrad an und war ein soziales Distinktionsmerkmal. Dabei kannte die Arroganz der literarischen Oberlehrer kaum Grenzen: Lion Feuchtwanger und Hans Fallada zum Beispiel waren nahezu vergessen und auf dem Markt nicht existent, und sogar Hermann Hesse, bald darauf der spirituelle Führer einer ganzen Generation, galt als nicht recht ernst zu nehmen, weil zu eingängig.

Ohne einen mehr oder weniger mühsamen, auf jeden Fall zeitraubenden Lernprozess war dieser literarische Bildungsgrad nicht zu erreichen. Wer schließlich gelernt hatte, sich in den Höhenlagen der anspruchsvollen literarischen Werke zu bewegen, wer einmal all die schwierigen (und nicht immer kurzweiligen) Lektüren durchlesen und durchlitten hatte, wollte sich von seinem Gipfelanspruch nicht mehr herunter begeben in das bequemere Tiefland, an dessen ausgetretenen Wegen spannende, fesselnde, realistische Werke angeboten wurden. Anders ausgedrückt: Für ihn kam die Lektüre der „Trivialliteratur“ nicht mehr in Frage. Wollte er nicht nur an Texten herumknobeln oder sich von dem langen Warten auf Godot erholen, las er zum Beispiel Thomas Mann und Max Frisch, zwei Autoren aus der ersten Feuilleton-Liga, die allerdings über weite Strecken gut lesbar waren.

Beide gehör(t)en zu meinen literarischen Favoriten.

Vielleicht lag es auch an ihnen, dass ich, als ich vor über vier Jahrzehnten meinen ersten Roman schrieb, zwar anspruchsvolle Literatur verfassen, aber zugleich gut lesbar sein wollte. Mein Ziel war eine Geschichte, welche die Engländer „a good read“ nennen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich mit meinen Bemühungen zwischen den Stühlen des literarischen Markts saß und dass dieser Zwischenraum ziemlich ungemütlich ist: Die Verlagsleute wissen nicht, wohin sie dich setzen sollen – und du landest auf dem harten Boden nicht gerade erfreulicher Absage-Tatsachen.

Bis heute irritiert (und ärgert) mich, dass die scharfe, ausschließende Trennung zwischen den beiden literarischen Bereichen noch immer besteht, dass sie so wertend, zugleich aber auch häufig kaum greifbar ist und sogar geleugnet wird. Es ist durchaus zu sehen, dass sie teilweise abgebaut erscheint: durch die Öffentlichkeit der neuen Medien (von den Amazon-Kritiken bis hin zu Literaturportalen wie Lovelybooks) und die weniger wertenden Lektürekriterien der jüngeren Generation, zudem durch die unaufhaltsame Marginalisierung der Hochkultur im Allgemeinen. Dennoch wirkt sie weiter in unseren Köpfen, in der Verlagsorganisation, im Feuilleton, bei der Verteilung von Preisen, an Universitäten und Schulen – und auch in literarischen Vereinigungen.

Schaut man auf die Verlagslandschaft, sieht man sogenannte Publikumsverlage, die kommerziell ausgerichtet sind und keinen zeitgenössischen Kafka verlegen, und die anderen, namhaften, „literarischen“ Verlage, deren Produkte vom Feuilleton besprochen werden (von Suhrkamp über Hanser bis Rowohlt, um ein paar Beispiele zu nennen). Diese „literarischen“ Verlage müssen ihre schwierigen Autoren quersubventionieren, publizieren daher auch Genre und Unterhaltung, darüber hinaus Sachbücher, gleichwohl haben sie eigene Lektorate für die „eigentliche“ Literatur. Und damit zementieren sie – selbst wenn sie die Bedeutung der weiterhin geltenden Kluft zwischen U und E leugnen – die Aufteilung in die wertvolle und in die triviale Literatur.

Es gibt noch weitere Beispiele dafür, dass das binäre Denken mit gravierenden Auswirkungen fest in unseren Köpfen verankert ist.

Zudem beobachte ich, dass es kaum Überschneidungen zwischen den Gruppen der U-Autoren und der E-Schriftsteller gibt, sieht man von den eher gewerkschaftlich und politisch ausgerichteten Vereinigungen ab. Ich war immer an einer Mischung und Integration interessiert, sehe aber keine Möglichkeit, den Autor eines historischen Romans und die Autorin einer bei Suhrkamp erschienenen Mainstream-Geschichte auf einer Party zu einem anregenden Gespräch zu verleiten. Wenn ich mich irren sollte, würde ich mich freuen. Es gibt auch so gut wie keine Partys, auf denen sie sich treffen könnten: In der Sause nach der Preisverleihung in Klagenfurt sucht man Autoren oder Autorinnen von Liebesromanen und historischen Krimis vergeblich, bei den Literaturtagungen in Akademien tauschen E-Autorinnen und Feuilletonisten ihre Argumente aus, die anderen sind nicht anwesend oder wagen nicht, sich zu outen. Ähnliches gilt für die Buchmessen-Fêten der großen Verlage: Auf einer solchen Veranstaltung in einer edlen Frankfurter Villa trank ich zwar den edlen Bordeaux des Hausherrn, lauschte wie alle anderen der berühmten Jazzsängerin aus New York, wagte allerdings nicht, mich unter die Hofschranzengruppe des damals noch unter uns weilenden „Kritikerpapstes“ MRR small-talk-plaudernd zu gesellen. Auch wenn mein Lektor noch kurz zuvor geäußert hatte, wir seien „die Ochsen, die den Karren ziehen“, fand er doch keine Zeit für mich. So unterhielt ich mich als Quersubventionierer aus der Konsumfutter-Abteilung des historischen Romans gewinnbringend mit dem Bodyguard des Hausherrn und ließ mich dann von einer jungen Frau, die sich als Literaturscout für den Verlag in London umtat, über die dortige Szene informieren.

Dies hört sich nach gekränkter Eitelkeit an, ich gebe es zu, und ich will auch nicht leugnen, dass ich gehofft hatte, mein Lektor würde mich anderen Autoren und Autorinnen vorstellen, um so ein Gespräch zu eröffnen. Die Hoffnung blieb vergeblich, der Aufmerksamkeits-Segen des Literaturpapstes blieb aus, und so erfuhr ich zumindest etwas Informatives über die Tätigkeit eines Bodyguards und einige Neuigkeiten über die kreativen Nächte in London. Im Anschluss durfte ich die echten Marilyn-Monroe-Warhols auf der Männertoilette des Hausherrn bewundern.

 

Als ich in das Genre des historischen Romans hineinrutschte, war mir bewusst, was von mir vonseiten des Verlags und auch der Leser erwartet wurde: Um gut verkauft zu werden, hatte ich mich an die Regeln einer konventionellen Poetik zu halten, also an das, was ich in meinem „Kreativ schreiben“-Buch selbst dargelegt hatte. Ich wollte keinen Originalitätspreis gewinnen, sondern Leser, ich bemühte mich um historische Authentizität, wollte anspruchsvoll, realistisch, informativ, aber auch lebendig und fesselnd schreiben und mein eigenes Anspruchsniveau – zwischen den Stühlen – nicht verraten. Das Interesse der Leserschaft war da, ich freute mich über die Verkaufszahlen, musste dann jedoch irritiert hinnehmen, dass sich frühere Fachkollegen naserümpfend von meinen Produkten abwandten, weil ich sie angeblich „nur um des Geldes willen“ verfasste. Sie kannten meine Schreibmotive ganz offensichtlich besser als ich selbst, der ich zum Genre „Historischer Roman“ gekommen war, weil ich mich bereits zwei Jahrzehnte zuvor in meiner damaligen Wahlheimat Provence von einem tragischen Familiendrama aus der Zeit der beginnenden Religionskriege hatte faszinieren lassen. Dieser historische Stoff ließ mich nicht los, und so schrieb ich schließlich die Geschichte nieder, die bereits zwei Jahrzehnte auf mich gewartet hatte. Dass sie sich aus dem Stand so gut verkaufte, hatte ich zwar gehofft, doch nicht wirklich erwartet.

Ich wurde sogar in einer Diskussion über mein Schreiben angegriffen, weil ich mich angeblich auf die Ebene der Trivialliteratur begeben hatte. Sollte ich mich wirklich gebrandmarkt fühlen als jemand, der um des schnöden Mammons willen seine literarischen Ideale verraten hatte? Natürlich spielte dabei auch Neid eine Rolle. Die von Ahnungslosigkeit zeugenden Vermutungen über die Höhe meiner Einnahmen waren nicht zu überhören, aber eben auch die eingefleischte Abwertung der „Unterhaltung“ (von Leuten, die selber nicht viel anderes lasen, nebenbei gesagt).

Manche meiner Kollegen und Kolleginnen des historischen Genres konfrontierten mich mit der anderen Seite der Medaille. Vieles war nur Gemurmel unter vorgehaltener Hand, aber dann drang doch einiges an mein Ohr: Ich galt plötzlich als „Schiller“ (!!) und damit als arrogant. Kolleginnen trompeteten in den Raum: „Ich schreibe Unterhaltung!“ und wehrten auf diese Weise eine Diskussion um Formfragen, thematische Klischees und sprachliche Qualität von vorneherein ab. Unterhaltung! hieß hier: Egal wie seicht, abgedroschen und sprachlich angreifbar, Hauptsache, es verkauft sich.

In meinen Augen war und ist entscheidend, die Vielfalt literarischer Äußerungen und deren Berechtigung anzuerkennen, Autorintentionen (sowie, nebenbei: -fähigkeiten) und Leserbedürfnisse wertfrei zuzuordnen. Dabei kann und muss man sehen, dass es nicht nur die beiden scheinbar unüberbrückbaren Gegensätze U und E gibt, sondern eine weite Skala literarischer Äußerungen, die sich durchaus kategorisieren lassen. Bekanntlich unterscheiden die Angelsachsen zwischen „high-, middle- und lowbrow“-Anspruch. Sie siedeln also zwischen der schwierigen, „akademischen“ Literatur und der eher leichten Unterhaltung noch einen weiten Zwischenbereich an, einen Bereich, der besonders gern gelesen wird, weil er Anspruch mit Leserfreundlichkeit verbindet, weil er intelligent und zugleich fesselnd geschrieben ist und Klischees vermeidet.

Darüber hinaus kann man noch genauere Unterschiede herausarbeiten: Es gibt eine voll schematisierte Heftchenliteratur (früher: Groschenromane) und, etwas anspruchsvoller, die Trivialromane, die ebenfalls nach festen Mustern konstruiert sind und sich sprachlich auf einfachem Niveau bewegen. Es gibt den anspruchsvollen Unterhaltungsroman, der in der Regel einem Genre zuzuordnen ist und – realistisch und mimetisch geschrieben – letztlich konventionell bleibt. Die beiden E-Bereiche umfassen den Mainstream-Roman, der sich zumindest theoretisch durch eine eigene bzw. eigenwillige Sprache auszeichnet, häufig sogar durch eine ungewöhnliche Stilgeste, und der für seine Darstellung im Idealfall (implizit) eine eigene Poetik entwickelt. Im Grunde wird dieser Roman kategorisiert durch die Verlage, in denen er erscheint, durch ihre Lektorate und Marketing-Abteilungen, sowie durch die Feuilletons, die bereit sind, ihn zu besprechen. Und schließlich kann man noch die experimentelle Literatur anführen, die mit höchstem Originalitätsanspruch alles Eingängige, Populäre von sich weist, die nicht unterhalten oder „zerstreuen“ (Goethe) will, sondern provozieren, schockieren, verunsichern, die „beißen und stechen“ und „die Axt für das gefrorene Meer in uns“ sein will (Frank Kafka).

 

Man mag nun meine Ausführungen für überholt oder lediglich für nicht zu verallgemeinernde persönliche Erfahrungen halten und die Versuche der Differenzierung für zu theoretisch und im Zug der Veränderungen im Medienbereich für obsolet. Natürlich hat sich im Bewusstsein, im Geschmack und in den Bewertungen während der vergangenen zehn Jahre etwas verändert: Große Buchhandlungen – wie Hugendubel zum Beispiel – trennen zwar deutlich nach Genre, aber nicht mehr nach U und E. Der eigene Tisch für die Preise einstreichende und erwartende Feuilleton-Literatur ist aufgelöst. Auch versuchen die meisten Autoren, sich der Schere im Kopf bewusst zu sein, die sogenannte Unterhaltung ist komplexer geworden, als sie es noch unter Johannes Mario Simmel und Anne Golon war, die Kriminalliteratur will zum Teil als E-Literatur ernst genommen werden, und die anerkannten Autoren der E-Sparte fügen plötzlich Morde in ihre Geschichten und verwenden („zitieren“) typische Skripts und Konstellationen der Genre-Literatur.

Doch sobald eine Agentur oder ein Lektorat die Manuskripte auf eine mögliche Publikation zu beurteilen haben, geht es um Schubladen und bald auch schon darum, wer ins Töpfchen, wer ins Kröpfchen kommt.

Wie wenig sich geändert hat und wie kompliziert die Lage auf dem Markt ist, musste ich während der vergangenen zehn Jahre mehrfach erleben, als ich versuchte, nicht nur historische Romane zu veröffentlichen, sondern wieder in das Gegenwarts-Mainstream-Fach überzuwechseln. (Nebenbei gesagt: Ich war nicht der einzige, der diese Erfahrung machen musste.)

Es hieß immer noch: „Manuskripte, die sich zwischen Literatur und U-Literatur bewegen, haben es in Deutschland leider nicht immer ganz leicht.“ So drückte sich mein Agent aus.

Eine seiner Kolleginnen wurde noch deutlicher und sprach Klartext: „Wer zweigleisig fährt, und zwar als deutscher Autor – für Ausländer gelten andere Regeln, ganz klar! –, stößt auf Betonvorurteile. Wer von U kommt und auf E reüssieren will, wer historisches Genre schreibt und in die Gegenwart oder Zeitgeschichte wechselt, wird von vorneherein als nicht erfolgreich abgelehnt. Und außerdem: die middlebrow-Zone zwischen U und E wird für deutsche Autoren nicht gesehen oder akzeptiert. Entweder E oder U, Anspruch oder Kommerz.“

Ihre Worte stellten sich als prophetisch heraus: Einmal Genre-U, immer Genre-U. Als ich meinem Verlag eine Gegenwartsgeschichte schmackhaft zu machen versuchte, lernte ich: Wen wir  einmal „als Autor historischer Romane akquiriert“ (wörtlich!) haben, der bleibt für uns immer Autor historischer Romane, selbst wenn der Markt längst nicht mehr so günstig ist und dieses Genre sich nur noch mäßig verkauft.

Wie absurd das Verhalten der Verlage ist, zeigt sich daran, dass sie unterschiedliche Maßstäbe an ausländische und deutsche Autoren anlegen. Die Behauptung der Agentin lässt sich im Übrigen leicht an den Programmen der Verlage – natürlich immer unter dem Vorbehalt, dass Ausnahmen die Regel bestätigen – nachprüfen.

Da kann man nur noch mit dem Kopf schütteln. Oder, besser für die seelische Gesundheit: mit den Achseln zucken.

Wer mag (und es finanziell nötig hat), kann natürlich ins (historische) Krimifach oder zu Love&Landscape wechseln, kann sich an Erotik oder Fantasy versuchen, wie zahlreiche meiner Kolleginnen und Kollegen es getan haben und noch tun. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, gut und schön, beides gehört zu unserem kreativen Vermögen – doch sind wir reine Content-Lieferanten worden? Heute Napoleons letzte Liebe, morgen Die Farm am Sambesi, übermorgen Heiße Nächte, dunkle Taten und schließlich Blutkelch und Opfergang? Vielleicht noch Humor? Der nächste Mann ist wieder eine Frau.

Soll U-Literatur also bedeuten: Auswechselbar, leicht zu konsumieren, nur noch marktadäquat?

 

Kommen wir zu den Ursprungsfrage zurück, zur Frage nach dem Unterschied zwischen der „eigentlichen“ Literatur und den „bloß“ unterhaltenden Werken. Es ist eine Frage, die sich jeder Autor, jede Autorin stellen sollte, und zwar nicht nur, damit er oder sie zwischen den Stühlen landet. Wir sind kreative – und ich denke auch: intelligente – Menschen, die über ihr Tun nachdenken, die bestrebt sind, das Beste aus sich heraus zu holen, und die zugleich realistisch und lebenspraktisch genug sind, um zu wissen, dass sie für ein Publikum schreiben, dass sie in der Regel Vermittler brauchen und Teilnehmer eines medialen Marktes sind. Nicht zuletzt wollen die meisten von uns Geld verdienen und sogar von ihrem Schreiben leben, mehr noch: eine Familie ernähren. Wie schwer es ist, all diese Ansprüche unter einen Hut zu bringen, wissen wir. Ohne Kompromisse geht es nicht. Wie weit jeder von uns bereit ist, sie einzugehen, ist eine Entscheidung, die uns niemand abnehmen kann.

Jenseits von Verlagsverträgen, Honorarvorschüssen, Leserunden und den Diskussionen mit unseren Agenten geht es immer auch um die Frage nach der Qualität von U und der Lesbarkeit von E. Aber wie unterscheiden wir das eine von dem anderen, ganz konkret, jenseits der abstrakten Begriffe?

In einer Spiegel-Rezension las ich vor einiger Zeit eine kurze Reflexion darüber, ob die von dem Autor druckgraphisch verwendeten Anführungszeichen vor direkter Rede schon ein Zeichen für Unterhaltungsliteratur seien. Es war kein Scherz, sondern ernst gemeint. Er wollte sagen: Fehlende Anführungszeichen sind ein Mittel, welches das allzu glatte Runterlesen und Zuordnen erschwert. Es verstößt absichtlich gegen eine tradierte druckgraphische Regel und ist somit ein Kunstsignal. Andere, weniger äußerliche Kunstsignale fallen mir ein: Man nennt einen Protagonisten nur „er“ und nicht mit Namen, auch dann, wenn der grammatikalische Bezug unklar ist und man nachdenken muss, wer eigentlich gemeint ist. Oder, um bei der Personenbezeichnung zu bleiben: Selbst wenn der Erzähler dem Protagonisten perspektivisch sehr nahe rückt, nennt er ihn immer mit dem distanzierenden Nachnamen und erzeugt auf diese Weise eine narrative Dissonanz. Oder noch irritierender: Er nennt ihn durchweg nur „der dürre Junge“. Intention: Weg von einer emotionalen Identifizierung, hin zu Stolperstellen, zu erhöhter Aufmerksamkeit, weg vom Lese-Flow, hin zur Unterbrechung der Lese-Illusion, zu Verfremdung, „aufgerauter“ Sprache, Distanzierung.

Bleiben wir kurz bei der Sprache, die immer schon ein entscheidender Faktor  bei der Wertung literarischer Texte war. Wer sich einmal unvoreingenommen auf Goethes Faust oder, scheinbar ganz harmlos, Thomas Manns Erzählung Herr und Hund eingelassen hat und ein wenig Gespür für Beschreibungsgenauigkeit, rhythmische Eleganz, Wortwitz, stilistische Vielfalt und Variationsfähigkeit hat, der weiß, zu was die deutsche Sprache fähig ist, der sieht, wer ein großer Sprachkünstler ist. Und wenn er sich anschließend auf die von sprachlichen Klischees und Stilbrüchen triefenden, in Wortwahl, Satzbau grundschulhaft simplen, rhythmisch holpernden und dann auch noch mit schiefen Bildern garnierten Texte eines Herrn X oder einer Frau Y einlässt, der kennt den Unterschied zwischen „gut“ und „schlecht“, was die literarische Sprache angeht.

Ein Beispiel aus der Abteilung „Anspruch“: Man kann eine eigentlich banale Geschichte auch sprachlich so aufpeppen (ein Kunstgriff, vielleicht auch nur ein Kunstsignal!), dass der Leser vor lauter Dechiffrierungsschweiß gar nicht merkt, wie banal das alles ist, was er liest. Ich denke da zum Beispiel an einen sehr dicken Wälzer eines durchaus erfolgreichen Autors deutscher Zunge, der gern über Liebe schreibt und seine Sätze so verschachtelt und anschwellen lässt, so überdehnt und parenthetisch auflädt, bis man als selbst geübter Leser immer wieder konstruieren muss, will man nicht die Orientierung verlieren. Gleichgültig, ob man den Roman zur Seite legt oder bereit ist, sich durch seine „suggestive Sprache“ (so der Werbejargon) in den Bann schlagen zu lassen – dieser Roman beansprucht eine Stelle im E-Fach. Der Stil muss nicht elegant sein, sondern eigen, ungewöhnlich, ja, er darf gar nicht elegant sein, denn dann könnte man ihm den Geruch nach parfümierter Wohlgestalt nachsagen.

Nehmen wir ein weiteres thematisches, aber immer wieder diskutiertes Beispiel für den Unterschied von E und U: Das Happy End. Wie jeder weiß, der in der U-Schublade gefangen ist, eine unabdingbare Forderung der Verlage. Schreiben Sie mal einen Liebesroman, der tragisch ausgeht! Dann müssen Sie die Autorität eines Leo Tolstoi haben, oder Sie müssen sich gleich an die E-Lektorate wenden. Dort wird man genau hinschauen: Ein offener Schluss, im U-Bereich verpönt, wäre vielleicht noch besser. Er hinterlässt bei den Lesern Fragezeichen und häufig ein Unwohlsein, sie wünschen sich eine abgeschlossene Geschichte und – seien wir ehrlich – eine positiv abgeschlossene: Die unerschütterliche Liebe findet ihre Erfüllung, der unerschrockene Kämpfer überwindet alle Widerstände, und der Verbrecher endet am Galgen.

Allgemein suchen wir Menschen einen sinnhaften Schluss und vielleicht sogar auch Trost in einer Welt, die meist wenig tröstlich ist und die schon gar zu selten Sinn stiftet. Dem kommt die Unterhaltungsliteratur nach. Die E-Literatur verweigert hier in aller Regel die Zustimmung: Sie will nichts Tröstliches und hasst den Zuckerguss. Denken Sie an die Axt für das gefrorene Meer in uns.

Über typische Unterschiede zwischen U und E nachzudenken führt auf ein weites Feld. Daher nur ein paar weitere Stichworte: U tendiert zu actionreicher Handlung, zu Spannung, zu szenischer Darstellung mit viel Dialog, E bevorzug die Detailgenauigkeit, will  in die Tiefe gehen statt in die welthaltige Breite, findet das Ungewöhnliche und neigt zu reflektiven Einschüben bis hin zur Selbstreflexion des eigenen Tuns.

Wird man noch einen Schritt allgemeiner, kann man G.C. Lichtenberg zitieren, der bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konstatierte: „Was eigentlich den Schriftsteller für den Menschen ausmacht, ist, beständig zu sagen, was der größte Teil der Menschen denkt oder fühlt, ohne es zu wissen. Der mittelmäßige Schriftsteller sagt nur, was jeder würde gesagt haben.“ Aber hängt der hier angesprochene Unterschied von Anführungsstrichen und Happy End ab?

 

Allerdings hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten nach der Diskussion um die Postmoderne einiges getan, das Unterhaltungs-Genre ist raffinierter geworden, die „seriöse“ Literatur leserfreundlicher und weniger verkopft. Zum Beispiel finden wir das multiperspektive und sogar das nichtchronologische Erzählen, die Verwendung verschiedener Textsorten (früher klare Kennzeichen für E) in der anspruchsvollen Genre-Literatur, so zum Beispiel in einigen Krimis und Thrillern. Auf der anderen Seite schreiben unverkennbar der E-Literatur zugeordnete Autoren (wie Juli Zeh in dem erfolgreichen Roman Unterleuten) plötzlich sehr realistisch und zudem so spannend, als hätte sie gerade ein Kapitel über Cliffhanger und Kapitel-Übergänge aus einem Ratgeber über das Handwerk des Schreibens studiert. Hinzu kommt, dass die Treffsicherheit und der Reichtum ihrer Metaphorik, die Beschreibungspräzision der Sprache das Lesen zu einer ungewöhnlich lustvollen Tätigkeit machen. Entscheidend: Die sprachliche Meisterschaft zeigt sich nicht nur in Bildlichkeit und Metaphorik, sie ist zugleich unaufdringlich, sie hemmt den Lesefluss nicht, sondern reichert die Wahrnehmung an.

In einem solchen Roman verbindet sich die welthaltig-realistische Darstellung einer sehr abgegrenzten Welt mit einer spannenden Handlung. Die reflektierenden Passagen, die ungewöhnliche Beobachtungen und Gedanken enthalten, sowie die multiperspektivische Struktur vertiefen die Figurendarstellung, ohne die Spannungsdramaturgie zu stören, und die metaphorische Treffsicherheit und Farbigkeit verschafft den Lesern ein in der deutschen Literatur nur selten anzutreffendes, durchaus sinnliches Vergnügen an der Sprache.

In diesem Roman verbinden sich E und U, in der Tat. Juli Zeh hat sich zwischen die beiden Stühle gesetzt, und der Erfolg gibt ihr recht. Ihre Leser zeigen mal wieder, wie beschränkt und selbstschädigend das „Betondenken“ kaum hinterfragter Dogmen ist, der Roman zeigt, dass sich viele Prinzipien unterhaltender Literatur sehr wohl mit dem Anspruch, der Reflexivität und der sprachlicher Raffinesse der „ernsthaften“  Literatur verbinden lassen.

Ich denke, hier liegt ein Ziel, das wir alle anstreben sollten: Gutes Erzählen liegt in der Mitte zwischen U und E und vereint die Stärken beider Seiten.



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