Strategien der Abwehr
und Anpassung in drei
autobiographischen
Werken der
Gegenwart
Ludwig
Fels: Der Himmel war
eine große
Gegenwart. Ein
Abschied
Manfred Bieler: Still
wie die Nacht. Memoiren
eines Kindes
Ludwig Harig: Weh dem,
der aus der Reihe tanzt.
Roman
Vorbemerkung:
Der Aufsatz erschien
1992 in den Freiburger
literaturpsychologischen
Heften, Bd. 11,
Würzburg
(Königshausen &
Neumann). Die
Online-Fassung ist um
die Literaturliste und
die Fußnoten gekürzt.
Autorenangaben zu den
Zitaten jeweils in
Klammern. Die
Rechtschreibung wurde
angepasst.
Die drei untersuchten
Werke sind über
zwanzig Jahre später
zwar nicht mehr
aktuell, auch hat die
paradigmatische
Bedeutung der
klassischen
Psychoanalyse samt
ihren Konzepten
und Begriffen seit
Anfang der neunziger
Jahre des vorigen
Jahrhunderts etwas
abgenommen (auch für
den Autor), doch halte
ich die Grundgedanken
der
Untersuchung für
weiterhin gültig und
die drei Werke in
ihrer Gestaltung für
exemplarisch.
1.
Autobiographie und
Psychoanalyse
Die
Autobiographie
in ihren
unterschiedlichen
Formen (zu denen ich
auch die offenkundig
autobiographischen
Romane zähle) setzt
voraus, dass ein
schreibendes Ich durch
erinnernde Selbst-Erforschung
sich
seiner selbst
vergewissern will. Der
Blickwinkel des Autors
ist nicht in erster
Linie auf
Fiktionalisierung des
Erlebten und
Phantasierten
gerichtet, sondern
auf die Authentizität
der Fiktionen, die er
als Erinnerungen und
Selbstbilder
bewahrt und als
erinnerte Identität im
Lauf seines Lebens
gebildet hat. Aber da
diese Identität immer
fließend, wenn nicht
fragmentarisch und
lückenhaft ist,
zudem häufig das Leben
als sinnlos, bedroht
und voller
unbewältigter
Traumatisierungen
empfunden wird, wächst
der Autobiographie die
Aufgabe zu,
durch das geschriebene
und schließlich auch
veröffentlichte Wort
eine
Ich-Identität zu
konstituieren, die
durch den Leser
bestätigt werden soll.
Die
Eigentümlichkeit
dieser
Selbsterforschung
liegt darin, dass die
‚Beichte‘ nicht
– wie in der Kirche
oder im
psychoanalytischen
Prozess –
bestgehütetes
Geheimnis bleibt,
sondern sich an eine
Öffentlichkeit wendet.
Selbsterforschung
wird also zur
Selbstentblößung und
öffnet die Grenzen,
die normalerweise den
geschützten Raum des
Privaten umgeben.
Soll
aus
Selbstentblößung aber
kommunikable Literatur
werden, die nicht nur
auf den
sensationslüsternen
Voyeurismus der Leser
setzt, muss der Autor
mehr sein als
nur der Paparazzo
seiner selbst und
Techniken der
Darstellung finden,
die
Interesse wecken über
den Blick durch das
Schlüsselloch hinaus.
Beichtväter
werden für ihre
Tätigkeit bezahlt,
Leser wollen gewonnen
werden. Möchte der
Autor sie für sein
Leben interessieren,
muss er seine
Geschichte – als
strukturierte story
– interessant
machen und aus dem
Regelfundus des Genres
diejenigen Techniken
und Strategien
auswählen, die dies
gewährleisten.
Selbstentblößung
gewährt
aber auch im
psychoanalytischen
Prozess noch keinen
Erfolg: Trauerarbeit
und
Selbstkonfrontation
setzen nicht nur
Erinnern voraus,
sondern ebenso
Wiederholen und
schließlich
Durcharbeiten; die
Verdrängungsschranken
werden
durchlässiger, die
Abwehr bricht auf und
der Widerstand –
tendenziell –
zusammen. Auf einer
neuen reiferen und
einsichtsvolleren
Ebene integrieren sich
die Teile des Selbst
neu, die
„eingeklemmten
Affekte“ (Sigmund
Freud) werden
befreit, ein neuer
Zugang zu den frühen
Objekten erschließt
sich, das Ich wird
souveräner, und die
Erinnerungen fügen
sich zu einem Bild,
das weniger verzerrt
ist als vorher.
Was
hier von dem
psychoanalytischen
Prozess postuliert
wurde, gilt auch mutatis
mutandis für das
autobiographische
Schreiben. Dabei ist
stets zu bedenken,
dass
es zwei Wege der
Arbeit an der eigenen
Biographie gibt: einen
ehrlichen Weg der
Selbsterkenntnis und
einen Weg der
(keineswegs nur
bewussten) Selbst- und
Fremdtäuschung.
Mit anderen Worten:
Die Analyse kann – als
narzisstische
Bespiegelung – auch
der Abwehr dienen und
Ausdruck des
Wiederholungszwangs
sein. Dabei spielt der
Grad der (scheinbaren)
Offenbarung keine
Rolle. Wer offen ist,
ist noch lange
nicht ehrlich.
Zu
bedenken ist ferner,
dass
der Analyseprozess
autobiographischer
Bemühungen immer von
dem hic
et nunc des
Schreibenden ausgeht.
Die Bilder der
Erinnerung werden mit
jedem Zugriff neu
entwickelt. Dies gilt
vor allem für
Kindheitserinnerungen.
Ihre Bilder passen
sich den Bedürfnissen
unserer
augenblicklichen
seelischen Verfassung
an: Alle unterliegen
einer
Transformation,
zumindest einer
Filterung. Was
verborgen bleiben
soll, sehen
wir nicht (mehr),
spüren wir höchstens
als irritierende
Macht. Manches ist
verschoben, ins
Gegenteil verkehrt,
anderes verdichtet.
Viele
Erinnerungsbilder
zeigen
traumatisierende
Erlebnisse, aber die
entscheidenden Gefühle
sind
verschwunden. Und
umgekehrt. Es gibt
Erlebnisse, die wir
nur noch wissen oder
fühlen, aber nicht
mehr sehen. Andere
Bilder sind als scripts
übernommen aus dem
Fundus der kulturellen
Tradition oder
bilden sich aus
innerfamiliären
Mythen. Kurz: Unsere
Erinnerungen sind
„Deckerinnerungen“
(S. Freud) unserer
Konflikte, unsere
Lebensgeschichte Teil
eines „Familienromans“
(S. Freud), eine
Fiktion, auch dann,
wenn sie die
Bruchstücke einer
Konfession
zu einer
dokumentarisch
belegbaren
Lebensgeschichte
zusammenfügt.
2.
Kommunikative
Strategien des
autobiographischen
Schreibens
Welche
kommunikativen
Strategien
spielen beim
autobiographischen
Schreiben eine Rolle?
Anders gefragt: Welche
Funktion erfüllt ein
solches Schreiben für
den Autor, welche
Funktion haben
autobiographische Werke
für den Leser, und wie
muss die Brücke
aussehen, auf
der sich beide treffen
können?
2.1
Stilisierungen oder
der
zurückverschobene
Narzissmus
Häufig
sind Autobiographen, vor
allem die
Memoirenschreiber unter
ihnen, berühmte
Menschen: Sie gönnen
sich
einen Narzissmus, der –
nach Hanns Sachs‘
Theorem vom
„verschobenen
Narzissmus“
– die Verschiebung vom
Autor auf sein Werk
wieder rückgängig macht.
Und ihre
Leser möchten teilnehmen
an dem Glanz und der
Größe, indem sie
genussvoll oder
sogar gierig die
Eröffnungen der
Selbstfeier aufnehmen.
Wir Miseri
(S. Freud)
identifizieren uns
gern mit großen Helden,
um auf diese Weise
unsere kleine
Statistenrolle für
eine gewisse Zeit
vergessen zu können.
Wenn gar der Schöpfer
unserer Träume
auftritt, um von sich
und seinen Geheimnissen
zu erzählen, wird uns
ermöglicht,
mit der realen Größe zu
verschmelzen.
In
diesen Funktionskreis
gehören vor allem die
Altersmemoiren. In ihnen
mögen didaktische
Absichten wirksam sein:
Es soll
aufgezeigt werden, wie
aus einem Saulus ein
Paulus wurde,
dokumentiert an dem
eigenen Lebensroman und
dem Leser zur
geflissentlichen
Nachahmung empfohlen.
Häufig werden
(Alters-)Memoiren nach
krisenhaften
Entwicklungen und deren
Lösung geschrieben, nach
überstandener Krankheit
und damit im Bewusstsein
des
Todes und können von
Einsicht, Reife und
Weisheit zeugen.
Häufiger jedoch
zeugen sie von
apologetischen
Absichten, von
Selbststilisierung (z.B.
um den
nachfolgenden
Biographien die Richtung
zu weisen) bis hin zur
geschwätzigen
Selbstgefälligkeit und
gezielten
Lesertäuschung. Dabei
wird nicht nur das
Selbstbild ‚geschönt‘,
sondern vor allem das
Fremdbild korrigiert und
‚gestylt‘.
Selbststilisierungen
sind von unverarbeiteter
Abwehr geprägt
(der Autor kann
bestimmte Erkenntnisse,
Erinnerungen, Gefühle
oder Bilder von
sich nicht zulassen) und
gleichzeitig von dem
Wunsch, ein anderer zu
sein. In
der Erfüllung dieses
Wunsches wird nun das
alte Drama des Kindes
mit seinen
Eltern, mit den
Geschwistern und all
ihren Nachfolgern
korrigiert. Eine
Rollenzuweisung soll
zurückgewiesen werden.
Der Leser (und
möglicherweise auch
der spätere Biograph)
wird in diesem Versuch
zu einem Helfer: Indem
er die
Selbstdarstellung des
Autors zum allgemein
bekannten Bild macht,
bestätigt er
die Selbstkorrektur. Dem
Autor, dem – womöglich
ohne eigenes Wissen –
das
eigene Wunschbild als
reales Bild
zurückgespiegelt wird,
kann sich auf diese
Weise lösen von den
Zwängen der
Fremdbestimmung. Ob er
sich allerdings wirklich
zu befreien vermag von
den unbewussten
Mechanismen des
Wiederholungszwangs,
bleibt zweifelhaft.
Eine
weitere kommunikative
Strategie geht von der
anderen
Seite der
Größe(nphantasie) aus:
von dem
‚Allgemein-Menschlichen‘
in dem
Ausnahmemenschen. Wer
als Berühmter von sich
erzählt, als sei er der
nette,
unauffällige Herr von
nebenan, um der netten,
unauffälligen Leserin
von gegenüber
zu zeigen, dass man im
Grunde des Herzens doch
die gleichen Sorgen,
Ängste und
Probleme habe, wirbt
durch Anbiederung um
Sympathie. Auch hier
liegt eine Form
der Selbststilisierung
vor, die allerdings –
wenn sie ohne Eitelkeit
vorgetragen ist – den
eigenen Narzissmus ein
Stückchen zurücknimmt.
Der Appell
an die Gemeinsamkeit in
der jeweiligen
Lebensgeschichte baut
Angst (vor der
Größe) und Scham (vor
der eigenen Nichtigkeit)
ab, schafft auf diese
Weise
Verständnisbrücken, aber
gleichzeitig erzeugt er
auch Langeweile, ein
heimliches
Überlegenheitsgefühl
oder sogar Verachtung;
er verunsichert den
Leser, weil er dessen
Bewunderungsbereitschaft
untergräbt.
2.2
Kontaktversuche und
Wiederholungszwang
Die
objektpsychologische
Seite
autobiographischen
Schreibens nimmt häufig
sogar noch konkretere
Formen an,
dann nämlich, wenn der
Autor direkt eine ihm
nahestehende Person
anredet, sich
vor ihr rechtfertigt,
ihr bisher
Verschwiegenes beichtet,
einen neuen Zugang zu
ihr – und damit
natürlich auch zu sich
selbst – sucht. Die
Verwendung eines
expliziten Adressaten im
Text ist zwar ein alter
Kunstgriff, um einen
direkten
Leserbezug herzustellen
(und von daher auch
besonders gefährlich,
denn dem
Leser wird dabei eine
eindeutige Rolle
zugewiesen), aber,
gerade bei
autobiographischen
Versuchen, birgt sie
doch die Chancen eines
direkten, wenn
natürlich nur
phantasierten Kontakts.
In der Regel hat dieser
Kontaktversuch
reparative Funktion: Er
möchte den Verlust
aufheben, das
Missverständnis
beseitigen, die Leere
füllen, vor allem das
Schweigen brechen.
Besonders
deutlich wird diese
Funktion, wenn eine
Elternfigur angeredet
wird. Dabei ist
die Wirkung auf den
Leser ebenfalls von
besonderer Intensität,
vor allem dann,
wenn der Leser das
imaginierte Verhältnis
aus eigener Erfahrung
kennt. Schließlich
sind wir alle Töchter
und Mütter, Väter und
Söhne.
Auch
hier spielt die Stärke
der Abwehr und damit die
fortlaufende Bedeutung
des Wiederholungszwangs
eine entscheidende
Rolle: Wenn
das alte (unbewusste)
Verhältnis repetiert
wird, kommt es nur zu
einer
Neuauflage der
Konflikte, ohne dass
eine Lösung erkennbar
wird. Dies mag für
den Autor eine gewisse
Befriedigung bedeuten,
zumal er sich jetzt in
der
stärkeren Position weiß,
denn nur er hat noch
eine Stimme, aber auf
den Leser
wirkt die Wiederholung
ungelöster Konflikte und
Traumatisierungen mit
den
entsprechenden negativen
Gefühlen von Hass und
Zerstörungswut peinlich,
abstoßend und
schließlich langweilig.
Auch frustrierend, denn
er sieht sich
plötzlich in der Rolle
eines seelischen
Mülleimers.
2.3
Der
Authentizitätswunsch
und der
Versuch einer Heilung
des Selbst
Der
Wunsch, offen und
ehrlich zu
sein, gehört sicher zu
den häufigsten Gründen,
eine Autobiographie zu
schreiben. Besonders in
einer Zeit des
allgemeinen Expertentums
für alle
Lebensfragen fühlt sich
der Schriftsteller mit
seinem zwangsläufig
eingeschränkten
Erfahrungshorizont auf
das zurückgeworfen, was
er selbst an und
durch sich erlebt hat.
Will er wahrhaftig sein,
kann er eigentlich nur
von sich
erzählen, und warum soll
er in Zeiten, in denen
das Persönlichste in
allen
Medien nach außen
gekehrt wird und zum
allgemeinen Diskurs
unter Freunden
gehört, nicht die
fiktionale Verstellung
aufgeben? Der Autor
macht sich und seine
Erfahrungen zum Objekt
einer biographischen
Recherche.
Dabei
kann er mehrere Ziele
verfolgen: Er kann
versuchen,
sich zu erinnern, diese
Erinnerungen im Prozess
des Schreibens zu
wiederholen
und in der formalen
Gestaltung des Werks
durchzuarbeiten. Klassisches Beispiel ist Marcel Prousts
„Auf der
Suche nach der
verlorenen Zeit“.
Auf diese Weise versucht
er sich an
einer Selbstanalyse und
hofft auf
therapeutischen Effekt,
auf Befreiung vom
Trauma und auf eine
„Heilung des Selbst“
(Heinz Kohut) durch das
Gelingen eines
vollendeten Werks. Diese
Selbstkonfrontation
unterliegt natürlich
ebenfalls den
Kräften der Abwehr: Je
nach innerer Distanz und
seelischer Reife
(Ich-Stärke)
können gleichwohl
auftretende Ängste
gebannt, Zensurschranken
gelockert,
Instanzen durchlässiger
werden.
Ein
solcher
autobiographischer
Versuch appelliert durch
die
fehlende Verstellung an
den Leser, sich auf ein
gleiches Wagnis – anhand
des
autobiographischen
Selbstversuchs –
einzulassen. Und im
Falle gleicher
Identitäts-Themen
(Norman Holland) wird
der Leser an sich
nacherleben können,
was der Autor ihm
vorgemacht hat: das
Abenteuer der
Selbsterforschung.
3.
Autobiographisches
Schreiben im
Zeitalter der
Psychoanalyse
Da ich
beabsichtige, drei
zeitgenössische
autobiographische Bücher
zu untersuchen, muss ich
den
historischen Rahmen, in
dem ich meine Thema
abhandle, eingrenzen.
Mich
interessieren vor allem
die Bedingungen der
Autobiographie ‚nach
Freud‘. Ich
glaube, dass das
psychologische und
psychoanalytische
Wissen, das sich in
diesem Jahrhundert
ausgebreitet und
vertieft hat, das
Schreiben, die
Selbstreflexion des
Autors und die
Wahrnehmungs- und
Deutungsmuster des
Lesers
grundlegend verändert
hat, auch bei denen, die
nichts oder nicht viel
von
Psychoanalyse halten.
Unsere heutige westliche
Kultur und ihr Denken
ist
durchtränkt von
psychologischen
Erklärungsmustern. Worte
wie unbewusst,
Komplexe,
verdrängen,
abwehren
usw. gehören zum
Standardvokabular nicht
nur der Intellektuellen,
sogenannte Freud‘sche
Versprecher oder
andere
Fehlleistungen erkennt
jeder Bildzeitungsleser.
Das bedeutet, dass das
Wissen
um unbewusste Prozesse
und das Erkennen der
Bruchstellen, an denen
sie sich
manifestieren, weit
verbreitet ist. Dieses
Wissen und das Wissen um
dieses
Wissen hat im Laufe der
beiden letzten
Jahrzehnte – mit der
endgültigen
Anerkennung der
Psychoanalyse und
Psychologisierung
unseres Denkens – enorm
zugenommen. Jeder
Schriftsteller muss
damit rechnen, dass ein
Teil der Leser
hinter dem Protagonisten
‚irgendwie‘ den Autor
vermutet, ihm hinter die
Maske
schauen und den
fiktionalen Aufbau als
Kulisse entlarven
möchte. Mit anderen
Worten: Die
Fiktionalisierung
funktioniert nicht mehr
so ohne weiteres, der
Zaun, den der Autor um
den Schonraum seiner
Phantasien gezogen hat,
ist
durchlässig geworden; er
braucht schon viel
Einbildungskraft, um
sich vor dem
neugierigen Blick der
Leser zu verbergen.
Hinzu
kommt ein zweiter –
komplementärer –
Erkenntnisprozess.
Kaum ein Schriftsteller
dürfte heute noch
glauben, sein Selbstbild
sei nicht
von fiktiven Elementen
durchsetzt, seine
Erinnerungen entsprächen
immer der
‚Wirklichkeit‘, seine
Lebensgeschichte sei
nicht eine
augenblicksgebundene
Konstruktion. Er weiß
also, dass er, schreibt
er eine Autobiographie,
nicht nur
ausschmücken muss,
sondern auch ‚erfindet‘
– genau wie im Roman.
Genese und
Funktion des kreativen
Aktes sind hier wie dort
ganz ähnlich. Nicht
zufällig
treten heute die meisten
autobiographischen Werke
von Schriftstellern im
Gewand
des Romans vor ihr
Publikum.
Mit
anderen Worten: Die
Grenzen zwischen
Autobiographie und
Fiktion sind fließend,
und häufig kann man
sogar der eigenen
Wahrheit auf dem
Umweg der ‚Erfindung‘
näher kommen als auf dem
direkten Weg der
‚Abbildung‘.
Mit der
Verwischung der Grenzen
zwischen fiktionaler und
autobiographischer
Gestaltung zeigen sich –
verstärkt seit Beginn
der siebziger
Jahre (des 20.
Jahrhunderts) –
Tendenzen, welche die
Schamschwellen
herabsetzen
und die traditionellen
Zensurschranken
durchbrechen, wenn nicht
gar aufzuheben
versuchen. Die
Bloßlegung von Körper
und Seele wird zu einer
mächtigen
gesellschaftlichen
Strömung: Die nackten
Mädchen auf den
Titelblättern der
Illustrierten, der
Marsch der enttäuschten
68-er Generation in die
Sprechzimmer
und durch die
Theoriegebäude der
Psychoanalytiker, aber
auch erfolgreiche
autobiographische Bücher
sind Symptome einer
Entwicklung, die so
überhandnahm, dass
sie starke Gegenkräfte
hervorrief. Was eine
Zeitlang als
„authentisch“
gepriesen wurde, wurde
schließlich als
„Nabelschau“ und
„larmoyantes
Seelengemecker“
kritisiert.
Hinzu
kommt eine weitere
Tendenz des
literarischen Marktes:
Das Publikum erwartet
immer mehr ‚Realismus‘
im Sinne des
dokumentarisch
Belegbaren,
‚Wirklich-Passierten‘
und gleichzeitig
Informativen.
Die Sachbücher werden
immer flotter
geschrieben und
verwenden verstärkt
Techniken der Fiktion.
Gleichzeitig weben
zahlreiche Erfolgsromane
in ihre mehr
oder weniger triviale
Liebesgeschichte
aktuelle Probleme,
nachprüfbare facts,
bauen Personen der
Zeitgeschichte
ein und transportieren
eine Menge Sachwissen.
Hinzu kommt die Flut der
Autobiographien und
Memoiren aus dem
VIP-Bereich der Medien
und Politik. Und
schließlich bereichern
vor allem in der Sparte
der Frauenliteratur
Lebensberichte über
durchlittene Krisen den
Markt: Autobiographien
Unbekannter,
die sich durch
Authentizität
auszeichnen (sollen),
durch Leser(innen)nähe
und
die ohne den Anspruch
‚echter‘ Literatur
auskommen (sollen).
Es
verwischen sich also
nicht nur die Grenzen
zwischen
Autobiographie und
Fiktion, sondern auch
diejenigen zwischen
Sachbuch und
Fiktion,
journalistischen und
fiktionalen Textsorten:
In den Spalten der
Illustrierten werden
Enthüllungen in
Short-Story-Form
aufbereitet, der Stil
der
Story
hat längst auf den
Nachrichtenbereich
übergegriffen (man denke
an den Spiegel).
Nicht zuletzt verwischt
sich die Grenze zwischen
Schriftsteller und
Nicht-Schriftsteller.
Diese
hier nur angerissenen
Tendenzen stellen eine
schwierige
Herausforderung an den
Schriftsteller dar.
Da, wie man gesehen hat,
viele seiner
angestammten Bereiche
von Autoren
nichtfiktionaler
Couleur oder von
‚Fachfremden‘
(Schauspielern z.B.)
besetzt werden, ist der
auf
Fiktion spezialisierte
Schriftsteller mehr denn
je zurückgeworfen auf
seine
eigene Person, sein
eigenes Erleben und
außerdem auf seine
größere
Sprachfähigkeit und
Kunstfertigkeit im
Erzählen sowie auf die
Stärke seiner
Einbildungskraft.
In den
achtziger Jahre ebbte,
wie
schon angedeutet, die
Selbstbespiegelungswelle
spürbar ab. Ein
reflektierteres
und künstlerisch
vermittelteres
Verhältnis zur eigenen
Biographie setzte sich
durch, gleichzeitig eine
betonte Abwendung von
autobiographischen
Mustern und
Hinwendung zu einer
Literatur, die betont
die Referenz zur
‚Realität‘
abschwächt, wenn nicht
gar leugnet und die
tendenziell zum
selbstreferentiellen
Sprach-Spiel wird.
Im
Rahmen des postmodernen
anything goes
und der Erfahrungen der
letzten zwei Jahrzehnte
entstehen nun Romane,
die offen, bewusst und
spielerisch mit
autobiographischen
Formmustern umgehen. Die
Autoren wissen, dass ein
direkter, unzensierter,
ungebrochener Ausdruck
des Persönlichen nicht
möglich ist, und
reagieren mit
verstärkter Offenheit
einerseits und
andererseits mit
verstärkter Reflexion.
Gleichzeitig wissen sie,
dass die Sprache, d.h.
ihre öffentlichen und
tradierten Diskurse,
mitschreibt. Ihre
Formeln und Muster
werden zwangsläufig
dem Erlebtem kategorial
übergestülpt, ebenso,
wie die Wahrnehmungs-
und
Deutungsklischees das
subjektive Erleben und
Erinnern
mitkonstituieren. Auf
diese Weise droht sich
die literarische
Autobiographie von ihrem
Referenzobjekt
zu lösen: von dem
erlebenden und
schreibenden Subjekt. In
das Paradies
erzählerischer
Selbstgewissheit, in dem
die Trinität des
Zeichens
selbstverständlich ist,
in dem sich
Bezeichnendes,
Bezeichnetes und
Referenz-Objekt in der
Einheit des Subjekts
vertragen, kann kein
ernsthafter
Autor heute mehr zurück,
es sei denn auf dem Weg
der wiedererlangten
Unbefangenheit – aber
ist diese noch
vorstellbar?
Vermag
die Psychoanalyse, wie
man
annehmen könnte, eine
Hilfe zu sein, die
Tiefen auszuloten und
nicht mehr den
Verzerrungen der Abwehr
zu erliegen? Anders
gefragt: Vermag das
psychoanalytische Wissen
dem Autor zu helfen,
eine neue Stufe der
Authentizität, der
Ehrlichkeit und der
befreienden, vielleicht
sogar heilenden
Selbstkonfrontation zu
erreichen? Anzunehmen
wäre, dass der
analytisch
geschulte Blick hinter
den „Deckerinnerungen“
das Verdeckte
aufzuspüren in der
Lage wäre, dass er
Rationalisierungen
entlarvte, verdrängte
Gefühle
wiederentdeckte. Aber
wenn man die
Autobiographien großer
Psychoanalytiker
betrachtet, drängt sich
ein gegenteiliger
Schluss auf. Von Freuds
„Selbstdarstellung“,
die in erster Linie eine
Werkgeschichte ist, sagt
Bruce Mazlish, sie könne
„ebenso
gut von einem
Nichtanalytiker
geschrieben worden
sein!“ Derselbe Autor
urteilt
über Ernest Jones‘
Autobiographie „Free
Associations“, sie sei
keinesfalls
„eine Übung in freier
Assoziation“, sondern
„ein höchst sorgfältiger
und
präziser linearer,
erzählender und
chronologischer Bericht
über das Leben
Jones‘, in dem ein
Höchstmaß an Interesse
den äußeren Ereignissen
seiner
Laufbahn, ein Minimum
seinem persönlichen,
seinem Innenleben
gewidmet ist. Das
ist Tatsache, obgleich
Jones in den beiden
ersten Absätzen des
ersten Kapitels
[...] etwas anderes
behauptet“. Mazlish
fährt fort: „Beim Lesen
seines Berichts
wächst in uns das
Gefühl, dass das meiste,
was er sagt, eine
Abschirmung, ja in
der Tat eine Abwehr
dagegen darstellt, dass
wir in sein Unbewusstes
eindringen.“
Mazlish
zieht aus seiner
Untersuchung den
Schluss, „dass die
Psychoanalyse
möglicherweise keine
potentielle Bereicherung
der
autobiographischen
Literatur mit sich
bringt, sondern sich im
Gegenteil als
hemmender Einfluss
erweist. Sie könnte in
der Tat zur Abwehr
echter
Selbstenthüllung
führen.“
Lässt
sich diese Vermutung
bestätigen oder
widerlegen? Eine
Antwort auf diese Frage
wird die folgende
Untersuchung dreier
autobiographischer Werke
erbringen.
4. Ludwig Fels: Der
Himmel war eine große
Gegenwart. Ein Abschied
4.1 Zur
autobiographischen
Funktion des Textes
Das
schmale Büchlein von
Ludwig Fels
(erschienen 1990) kann
gelesen werden als eine
autobiographische
Erzählung, in
der der Autor („Ludwig“)
die letzten Monate
seiner Mutter beschreibt
und seine
Reaktion auf ihr
Sterben.
Autobiographisch ist
dieser Text aus mehreren
Gründen: Er handelt in
erster Linie von dem
Sohn, seinen Reflexen
und
Reflexionen, und erst in
zweiter von der Mutter,
von der Abschied
genommen
werden muss. Dabei
handelt es sich um keine
Memoiren, die eine lange
zeitliche
Distanz zwischen dem
erzählten und dem
erzählenden Ich
voraussetzen, sondern um
eine diaristische Form,
in der erzähltes und
erzählendes Ich in der
Gegenwart
eines
lebensgeschichtlichen
Ausschnittes
zusammenfallen. Nicht
zufällig heißt
die Textsorte Ein
Abschied. Fels
versucht, die
Distanzierung, die das
Schreiben zwangsläufig
mit sich bringt,
aufzuheben. Zumindest
suggeriert er diese
Aufhebung. Schreiben
wird zu einem
unmittelbaren
Handlungsreflex, zu
einer
Überlebensstrategie; das
Geschriebene
soll, paradoxerweise,
mit dem Gefühl
verschmelzen, das es
auszudrücken versucht.
(Dabei
ist natürlich der
Zeitfaktor nicht
ganz auszuschließen:
Während des Sterbens
verstreicht Zeit, und
auch das Auf-
bzw. Neu- und
Umschreiben verbraucht
Zeit. Die angestrebte
Verschmelzung kann –
bei Texten, die
veröffentlicht werden
– praktisch nur eine
fingierte sein.)
Von
daher stellt es weniger
eine Wiedergutmachung an
dem
zentralen Liebesobjekt
dar als einen Versuch,
die Beschädigungen am
eigenen
Selbst, die durch den
Verlust auftreten, zu
begrenzen.
Wie
wenig sich der Autor von
der Mutter nach deren
Tod und
kurz vor Ende des
Schreibaktes befreien
konnte und welche
Funktion das
Schreiben für ihn hat,
sagt er selbst:
„Meine
tote Mutter hält mich
von
hinten umschlungen,
hängt mir auf dem
Rücken, meine tote
Mutter, so lange tot,
so lange schon tot, so
falsch geboren, ich, wer
immer das sein mag ohne
sie,
wer immer das sein mag.
Wie durch einen falschen
Traum krieche ich,
krieche zu
Kreuze, und sie reitet
auf meinem Rücken, wie
eh und je in Fleisch und
Blut,
und Gott lacht über uns,
über uns, und die
Erdbeben beginnen und
zerstoßen mir
die Gedanken.“
„Ich
will nichts mit dem
Schmelz der
Trotzallemliebe
schützen: ich hätte
gerne eine andere Mutter
gehabt [...] eine Mutter
wie eine
Heldin, [...] eine
Bilderbuchmutter, die
erste Liebe, alles für
immer.“
„Aber
wenn ich schreibe, macht
sie sich klein und
verkriecht
sich.“
4.2 Abschied durch
Schreiben
Der Text
beginnt mit einer
schrill
dissonanten Mitteilung
darüber, wie der Autor
auf die Nachricht von
der letalen
Krankheit der Mutter
reagiert. Anschließend
werden ihre letzten drei
Begegnungen geschildert.
Während der ersten wähnt
der Autor seine Mutter
noch
nicht krebskrank, bei
der der zweiten besucht
sie ihn und verfällt
während
eines Umtrunks in
Grinzing in eine
ekstatische Euphorie;
während der dritten,
in ihrer kleinen
Wohnung, ist der Zerfall
schon weit
fortgeschritten, und die
Mutter kann ohne
Morphium nicht mehr
auskommen. Schließlich
stirbt sie, ohne dass
er dabei ist.
Fels
notiert seine Gefühle,
Träume, Erinnerungen,
Begegnungen,
Vorstellungen und
Phantasien, die ihn
während dieser Zeit
heimsuchen und
bedrängen. Dabei
entsteht weniger das
Porträt einer Frau oder
die Beschreibung einer
Sterbenden als der
Gefühlsausdruck des
Sohnes, der
hilflos zusehen muss,
wie der ihm nächste
Mensch qualvoll und doch
gefasst
zerfällt.
Die
Mutter, eine fränkische
Bauernmagd, später
Haushaltsgehilfin,
musste sich ein Leben
lang abarbeiten: „Ein
unendlicher
Werktag das ganze
Leben.“ Mit keinem der
drei Väter ihrer drei
Kinder war sie
verheiratet. Noch als
ältere Frau nahm sie
eine Stelle an, um dem
Sohn sein
Schriftstellerleben zu
ermöglichen, und sie
verschwieg ihm, dass sie
sich bei
dieser Arbeit
erniedrigen musste.
Die
Folge für den Sohn ist
ein
tiefsitzendes
Schuldgefühl, das sich
auch auf das Schreiben
(„Gehirndreck“)
ausweitet und verstärkt
wird durch die Tatsache,
dass er als einziges der
Kinder weit weg wohnt
und die Mutter nicht,
wie es die Schwester
tut, bis zu
ihrem Tode pflegen kann.
„Ich: im Genuss der
Feigheit, ich: im Besitz
der
Entfernung.“ Weil er den
Schmerz über ihr
Sterben, seine
Schuldgefühle über ihr
Leben und die ihm immer
deutlicher werdende
Entfremdung zwischen
ihnen nicht
anders aushalten kann,
versucht er, diesen
Schmerz sich aus der
Seele zu
schreien: „Wo / Kann man
die ganze / Welt
zusammenbrüllen?“
4.3 Strategien der
Unmittelbarkeit und
ihrer Abwehr
Mit
welchen Mitteln führt
der Autor
den Leser nun in seine
Textwelt ein? Der Titel
des Romans nennt die
Zentralmetapher der
Erzählung („Himmel“) und
schlägt schon gleich den
lyrischen
Ton an, der das Buch
durchdringt. Auf der
ersten Seite – nach drei
Motti –
fährt der Autor fort,
den Leser auf seine
narrativen Strategien
einzustimmen.
Während die Motti den
Leser in einer
gedankenschweren Haltung
des Abwartens und
Rätselns halten, zeigt
der erste Satz, dass es
hier um keine
Kontemplation
philosophischer Rätsel
geht.
„Als
mein Bruder anrief und
mir
sagte, die Ärzte hätten
festgestellt, dass bei
unsrer Mutter bereits
die ganze
Bauchhöhle verkrebst
sei, ging ich vors Haus
und holte die Mülltonne
von der
Straße herein.“
Aber
schon der nächste Satz
löst die
Dissonanz in einer
Scheinharmonie wieder
auf. In der Logik des
Abwehrverhaltens
führt er in einen
Zustand vor das Trauma
zurück. („Die
Untersuchungen [...]
hatten noch keinen
Krebsbefund erbracht;
sie war vor
Erleichterung
aufgelöst“)
Das sich anschließende
lyrische Thema nennt die
Essenz der
Mutter-Sohn-Beziehung:
„Sie hatte mich [...]
erwartet, [...] als käme
ein
Liebhaber, sie zu
entführen.“ Der Sohn als
der Liebhaber der
Mutter: Wem wird
dabei nicht der
Ödipus-Komplex in den
Sinn kommen? Die eher
klischeehafte
Beschreibung des
mütterlichen Gesichts
(„eine milde,
durchsichtige Röte lag
in
ihrem Gesicht“) geht
über in ein lyrische
Bild, das drei für die
Metapherngestaltung
typische Merkmale
erkennen lässt: Es
beginnt mit einem Bild
schöner, unbelebter
Natur („wie eine aus
Nebeln steigende
Sonne“), gibt diesem
Bild eine metaphysische
Unschärfe („wenn sie den
Rand der Welt berührt“)
und
verzerrt es weiter durch
surreale Attribute („und
flirrende Vögel aus
ihrem
Licht stürzen“).
Alternierend
schreibt der Autor dann
von der Mutter und von
seinen eigenen Gefühlen:
„Sie freute sich“ – „ich
freute mich“; „nun wird
sie
sterben“ – „ich möchte
die Welt dafür
erschlagen. Ich weine
und hasse mich für
jede Träne.“ Fels scheut
sich nicht, seine
Gefühlsregungen direkt
zu benennen,
und diese Gefühle sind
keineswegs gebremst oder
zurückgenommen, sie
äußern sich
als körperlich
ausagierte:
Wut/erschlagen,
weinen/Tränen, Hass.
Die
Funktion dieses
„Abschieds“
dürfte klar sein: Es
handelt sich um das
Notat einer
Trauerarbeit, nein: der
Trauerarbeit, und lässt
damit eine wichtige
Funktion des Schreibens
Textgestalt
werden. Natürlich ist
die Unmittelbarkeit des
Notats eine, wie wir
schon
gesehen haben, durch-
und ausgestaltete. Seine
ursprüngliche
Spontaneität ist
zu einem Kunstmittel
umfunktioniert worden.
Die
‚Direktheit‘ des Textes
durchbricht eine Reihe
traditioneller
Abwehrschranken: Die
Fiktion ist aufgegeben
zugunsten eines
autobiographischen
Schreibens; ebenfalls
aufgegeben ist die
distanzierende Form der
Erinnerung
zugunsten eines
diaristischen Ausdrucks;
der Text ist extrem
gefühlsbetont in
der Hyperbolik von
Wortwahl und
Sprachgestus, aber auch
in der Schilderung
stark emotionsgeladener
Situationen. Hinzu
kommt, dass der Autor
direkt die
Mutter anredet („du“,
„Mutter“, später immer
mehr „Mama“). Darüber
hinaus
durchbricht er die
Schamschranken, indem er
häufig von der
Körperlichkeit
seiner Mutter spricht,
obwohl er sie doch nie
nackt gesehen hat, sogar
seine
Inzestwünsche
ausphantasiert und sich
auch in der
Ausschmückung der
Urszene
ergeht.
Auch
wenn die „Seelenkunde“,
wie
Fels uns mit Stifters
Worten in einem der
Motti mitteilt, ihre
Grenzen hat, so
benutzt er sie und ihre
Theorien doch, um
genauer die „Erdbeben“
(91) seiner
Trauer aufzuzeichnen.
Psychoanalytische
Konstrukte wirken als
Bildgeber, als
Möglichkeiten, Wünsche
auszusprechen und
Gefühle auszudrücken,
die
normalerweise der Abwehr
unterliegen. Die
Psychoanalyse ermöglicht
also die
Darstellung des
Intimsten. In dieser
scheinbar totalen
Durchbrechung der Abwehr
wird aber sofort
deutlich, dass eine
kompromissbildende
Anpassung stattgefunden
hat. Denn die Phantasien
sind nicht mehr
‚authentisch‘: Der Leser
erkennt das
Klischee
(„Ödipus-Komplex“,
„Urszene“), das
verwendet worden ist, um
etwas
Verborgen-Bedrohliches
zu benennen.
Welche
Strategien der Abwehr
und
Anpassung Ludwig Fels
benutzt, wird gerade an
der Textstelle deutlich,
die das
Zentrum der Liebe
zwischen Sohn und Mutter
ausphantasiert.
In ihr
erweitert sich die
Inzest-Phantasie zu
einer
Geburtsphantasie („ein
kleiner, roter, runder
Kopf zwischen ihren
Schenkeln“),
und diese geht
schließlich über in die
Reflexion des Sterbens,
der Auflösung
(Schoß = Grab). Der
Inzest mit der Mutter
wird zum Versuch der
Rückkehr in den
Mutterschoß. Auch dieser
Gedanke ist der
Psychoanalyse nicht
fremd.
Die
Provokation, die die
Darstellung unbewusster
Phantasien
anzielt, wird noch
erhöht durch die
mehrfache Verwendung des
four-letter-words
„ficken“ für den
Vorgang der liebenden
Verschmelzung mit der
Mutter. Jede
beschönigende Aura
soll dem Vorgang
genommen werden.
Aber
dies ist nur die eine
Seite. Das
Ungeheuerliche, das
aus dem Zentrum des
Unbewussten
hervorzubrechen vorgibt,
spielt sich da ab, wo
wir es noch am ehesten
zu akzeptieren bereit
sind: im Traum. Dies
wird dem
Leser durch
Wiederholungen
regelrecht eingehämmert.
Als Traum ist das
Wunschgeschehen der
Verantwortung des
Phantasierenden entzogen
und wird gleichzeitig
als eine Art fiktionales
Halluzinieren
ausgewiesen.
Als
weitere Mittel der
Abwehr/Anpassung sind
die
reflektierenden
Einschübe und die
häufige Verwendung von
Gefühls-Abstrakta
(Liebe, Schmerz, Angst,
Hass) zu betrachten, die
der
Distanzierungsbemühung
entspringen. Was aber
für die gesamte
Sprachbewegung der
Erzählung
konstituierend ist, ist
die durchgängige
Metaphorisierung, die
lyrisierende
Sprache. Immer wieder
gehen die konkrete
Beschreibung, die
Ansprache, die
Gefühlsbenennung, die
Reflexion über in
Bilder, die meist aus
elementaren
Bereichen, häufig aus
der unbelebten
(Himmels-)Natur
gegriffen sind und in
großen Gesten
vorgetragen werden:
„Der
Berg [...] ragt über den
Nebel,
eine schneidend gezackte
Stufe für die Riesen der
Nächte, die seit
Ewigkeiten
gegen den Himmel
anrennen.“
„Hör zu,
dich erwartet ein
gigantischer Engel, der
dich mit
blauem Feuer wäscht, er
wird dich tragen, ganz
leicht, du wirst alles
sehn,
Länder wirst du sehn,
die wie Bilderscheiben
durch die Himmel
schweifel,
Kristallkontinente.“
„Wenn
das Herz nicht schlägt
wie Donner in einem
Gebirge aus
Glocken, ist alle Angst,
alle Trauer nicht wahr.“
Je näher
der Tod der Mutter
heranrückt, desto mehr
Raum beansprucht die
Metapher, desto
religiöser auch
werden die Bilder und
Worte. Anspielungen an
die Kreuzigung („Gott
gibt dir die
Hand, und die Engel
werden gekreuzigt“), die
Verwendung der
Bibelsprache und
schließlich „mein 23.
Psalm“ geben dem Text
ein Pathos, das der
großen
Gefühlsgeste und der
Hyperbolik der Himmels-
und Weltraum-Vergleiche
entspricht.
Die
Metaphorisierung als
durchgängige
Text-Strategie
konterkariert das krude
und angsteinflößende
Geschehen des Sterbens
und die
unbotmäßigen Wünsche und
Phantasien des Sohnes,
indem sie sie in einen
Bildnebel der
elementaren Natur
tauchen, sie wie hinter
einem Softfilter
verschwimmen lassen. Die
allgemeinen und
gelegentlich surrealen
Metaphern
erzeugen also keine
schärfere Visualisierung
des Geschilderten,
sondern
schaffen einen in die
Natur verschobenen vagen
Vorstellungsraum, der
als
affektgeladener vor
allem die Gefühle des
Ursprünglichen,
Erhabenen, des
Numinosen evozieren
soll. Was auf der einen
Seite durch die direkte
Benennung
der Emotionen nur
etikettiert und
behauptet wird, soll
durch das dauernde
Hinübergleiten in den
Lyrismus auch beschworen
werden und gleichzeitig
korrigiert. Der
abscheuliche Alltag des
Sterbens mit seinen
Schmerzen, den
medizinischen
Eingriffen, dem Gestank
und Verfall, dieses
erdgebundene
Geschehen wird
aufgehoben in einem
Resonanzraum, der sich
wie eine große
Gegenwart des Himmels
über die Banalität des
Todes wölbt.
Man darf
nicht vergessen, dass
der Sohn spricht, in
erster
Linie von sich und
seinen Gefühlen, hilflos
im Angesicht einer
leidenden
Person, die seine Mutter
ist. Am Ende ihres
Lebens versucht er
sprachlich an
den Anfang
zurückzukehren, und er
tut, was schon die
Griechen mit manchen
ihrer
Helden und Heldinnen
getan haben: Er siedelt
sie (als Stern) am
Himmel an:
„Meine Mutter ging über
den Himmel. Sie ging
über den Himmel im
beißenden Wind,
verschwand in der
Brandung der Wolken.“
Ist sie dort grandios
überhöht, kann er
mit ihr verschmelzen und
auf diese Weise Schuld
und Scham, Schweigen und
Missverständnisse,
Entfernung und
Entfremdung zulassen und
gleichzeitig überwinden.
Und so endet
auch das Buch: Die
Mutter ist unsterblich
geworden und führt ein
unbelastetes
Leben: „Du lebst in
einer andern Stadt. Du
hast einen Mann, der
dich liebt,
andere Kinder. Du wohnst
in einem schönen Haus
und es geht dir gut.“
Dieser
harmonische
Märchenschluss, der in
einem deutlichen
Kontrast zum ersten Satz
der Erzählung steht,
kehrt in die Klischees
des kindlichen
Bewusstseins zurück
und sucht sich ein Happy
End. Auch der Leser
versteht, dass hier
Zuflucht in
einem literarischen
Muster gesucht wird, das
in seiner
Formelhaftigkeit nichts
aufhebt und nur
scheinbar versöhnt.
Alle
zentralen Textstrategien
sind
Kompromissbildungen aus
Abwehr und Anpassung,
die ermöglichen, die
Zensurschranken zu
durchbrechen und
gleichzeitig auf einer
verschobenen Ebene
wiederaufzurichten. Je
tiefer in unbewusste und
verbotene Bereiche
eingebrochen
wird, je mehr Angst und
Abwehr auf diese Weise
im Autor wie im Leser
erzeugt
werden, desto stärker
verlässt sich der Autor
auf tradierte Muster,
die für den
Leser verständlich,
einzuordnen und
akzeptabel sind.
4.5
Gegenübertragung
Natürlich
ist die Kommunikation
zwischen Autor und Leser
immer gefährdet. Wenn
der Autor den Leser
einbezieht
in die Ambivalenzen
seiner tiefsten
Objektbeziehung, so
läuft er Gefahr, dass
seine Mittel, diese
Ambivalenzen
auszuhalten, nicht denen
seiner Leser
entsprechen. Ist seine
Offenheit zu groß, dann
fühlt sich der Leser
irritiert,
peinlich berührt und
abgestoßen; sind sie zu
sehr verstellt und
abgewehrt, wird
dem Leser die
Anteilnahme fehlen, die
Faszination, die meist
ausgeht von etwas
Verborgenem, das den
Leser angeht, das er
aber nicht direkt zu
fassen vermag,
und er wird mit
Desinteresse und
Langeweile reagieren.
Für mich
ist die Komplementarität
von Übertragung und
Gegenübertragung
beim Lesen der Erzählung
von Ludwig Fels deutlich
an einer Stelle
unterbrochen:
Die Mutter, schon von
der Krankheit schwer
gezeichnet, besucht den
Sohn in
Wien, man feiert
innerhalb der
Reisegruppe in Grinzing.
Sie betrinkt sich und
macht, man kann es nicht
anders sagen, einen
fremden Mann hemmungs-
und
schamlos an, indem sie
sich mit all ihrem „Fett
und Fleisch, den
stämmigen
Hüften, dem vorspringen
Bauch“ auf seinen Schoß
setzt. „In ihrem Rausch“
verliert „die fidele
Greisin, geile Närrin“
„alle Scheu und Scham“
und,
durchflutet von den
Säften einer erinnerten
Wollust“, balzt „wie
liebeskrank“.
„Dies war ihre Stunde,
endlich ihre Stunde.“
„Sie springt ihm vom
Schoß und
tanzt den Ententanz, die
gemeinste Form der
Selbstentwürdigung.“
„Sie fickte in
Gedanken mit dem Mann,
[...] fickte sich jung.“
Wie
reagiert nun der Sohn?
„Meine Augen waren
Spiegel.“ „Ich
trank, und mein Zorn
erlosch angesichts
dieses vergessenen
Fleisches, dieses
Fleisch mit dem Willen
zur Lust, längst
beherrscht von Alter und
Tod.“ Der Sohn
kann nur zusehen
(„Spiegel“), muss seinen
Zorn über das Verhalten
der Mutter in
Alkohol ertränken. Auf
der Textebene, also in
der Erinnerung und
Rekapitulation
des Schreibens, schwankt
er zwischen
vergleichsweise leicht
metaphorisierter
Beschreibung, die immer
wieder von Kommentaren
und Erklärungen
durchbrochen
ist. Was während des
aktuellen Geschehens der
Alkohol leisten muss,
kann jetzt,
in der erinnernden
Distanz und in Hinsicht
auf einen Leser, dem er
den Vorfall
erzählt, nur der
Verstand leisten. Gegen
die Gefühle von Scham
und Peinlichkeit
hilft die
psychologisierende
Erklärung. Aber
gleichzeitig schwingt
noch etwas
anderes mit, das viel
schwerer zu fassen ist:
Das Geschehen, in dem
unter dem
Einfluss des
enthemmenden Alkohols
das sonst gebändigte Es
über die Ufer tritt,
bekommt etwas
Elementar-Animalisches
(„Er dachte an jüngere
Tiere“) und
Archaisches. Eine
wiederauferstandene
Venus von Willendorf
stürzt sich auf
einen verschreckten und
mit hilfloser Starrheit
reagierenden Mann und
fordert
dessen Geschlecht
heraus.
Für mich
reißt an dieser Stelle
das Band zwischen Autor
und
Leser. Die Irritation,
welche die Erzählung an
sich schon auslöst, die
aber zu
ihrer akzeptierten
Strategie gehört, führt
zu einer Abwehr, die dem
Text an
dieser Stelle die
Gefolgschaft aufkündigt.
Ich empfinde
Peinlichkeit, die mir
der Autor auch nicht
wegrationalisieren kann,
und diese Peinlichkeit
zerstört
sogar das Mitleid mit
der kranken Frau. Ich
möchte die
Glaubwürdigkeit der
Szene
hinterfragen, die nicht
nur vor den Augen des
Sohnes, sondern auch vor
dem
„Starren guter
Bekannter“ stattfindet.
Die Peinlichkeit
entsteht nicht aufgrund
des Motivs „fidele
Greisin“ (auch ein
Abwehr-Anpassungs-Mittel
des Autors),
sondern weil hier eine
todkranke Frau entgleist
und diese Entgleisung
von dem
Sohn in beschreibender
Kälte, metaphorischer
Beschönigung und
rationalisierender
Erklärung an die
Öffentlichkeit gezerrt
wird. Auf diese
Weise verliert die Frau
ihre letzte Würde. Ich
als Leser möchte sie
schützen
vor der Entblößung und
gleichzeitigen
Stilisierung durch den
Sohn, auch
deswegen, weil diese
Szene als eine der
konkretesten und
lebendigsten im
Gedächtnis haften bleibt
und das Bild der Frau
auf Dauer bestimmt.
5. Zur
Problematik von Wertung
und Gegenübertragung
An
dieser Stelle bietet es
sich an,
einige Probleme zu
diskutieren, die
entstehen, wenn
Literatur untersucht
wird,
die noch keinen
„historischen Edelrost“
(Thomas Mann) angesetzt
hat. Diese
Probleme verschärfen
sich, wenn es sich dabei
um jüngst erschienene
Texte
handelt, über die es nur
Rezensionen, aber
überhaupt noch keine
wissenschaftliche
Literatur gibt. Über den
Autor und den
biographischen wie
produktionsästhetischen
Hintergrund der Texte
weiß man wenig, und was
die Wertung
anbetrifft, so muss man
sich auf sein eigenes
Urteil verlassen. Dieses
Urteil
ist bekannterweise stark
abhängig von einer nur
teilweise durchschauten
„lecture
projective“
(Walter Schönau),
d.h. von den
Schwankungen der
Gegenübertragung.
Natürlich kann man zur
Objektivierung die
Reaktionen der
Literaturkritik
heranziehen.
Diese
Schwierigkeiten haben
aber auch eine positive
Seite.
Der fehlenden Distanz
steht die Lebendigkeit
der Kommunikation
gegenüber: Autor
und Leser befinden sich
im gleichen
(literatur-)historischen
Kontext, das
Koordinatensystem von
Produktion und Rezeption
ist weitgehend das
gleiche, der
Leser kann spontaner,
wird aber natürlich auch
voreingenommener
reagieren.
Aus der
Not muss man eine Tugend
machen: Da eine positive
Wertung des Werks nicht
stillschweigend
vorausgesetzt werden
kann, muss sie
expliziert werden, vor
allem dann, wenn ein
Werk (oder Stellen
daraus) misslungen
erscheinen. Dabei ergibt
sich zwangsläufig –
wenigstens bei
psychoanalytisch
fundierter
Literaturwissenschaft –
eine Reflexion auf die
Gegenübertragung des
Interpreten. Denn:
Interpretation ist
weitgehend eine
rationalisierende
Explikation des
gefühlsbetonten ersten
Lese-Responses.
Ich
versuche, in meinem
Aufsatz dieser
Erkenntnis Rechnung
zu tragen, kann jedoch –
vor allem aufgrund des
begrenzten Platzes – auf
den
Rezeptions- und
Interpretationsprozess
und damit meine
persönliche
Gegenübertragung nur
gelegentlich und sehr
knapp eingehen.
Da ich
aufgrund meines
Konzeptes literarischer
Kommunikation
immer auch die Rezeption
in meine Überlegungen
einbeziehe, spreche ich
häufig
von dem
Leser. Ich bin mir
bewusst, dass
der
Leser erst einmal ich
bin. Aber
ich versuche, diese
Subjektivität entweder
als solche deutlich zu
machen oder
zu objektivieren. Dies
geschieht zum einen
durch meine Reflexion
auf die
Leserstrategie des
Autors bzw. des Textes
und durch die Diskussion
der
Rezeptionsbedingungen,
zum anderen durch einen
nachträglichen Rekurs
auf die
literaturkritische
Rezeption, und zwar
dort, wo die Urteile
stark divergieren.
6.
Manfred Bieler: Still
wie die Nacht. Memoiren
eines Kindes
6.1
Die Anlage des Romans
Sein
autobiographisches Buch
„Still
wie die Nacht“
(erschienen 1989), in
dem der Autor sich zwar
nicht beim Namen
nennt, in dem aber alle
Steckbrief-Details (wie
Geburtsort und Alter
etc.) des
kleinen „Helden“ auf den
Autor verweisen, nennt
Bieler „Memoiren eines
Kindes“.
Normalerweise sind
Memoiren rückschauendes
Lebensresümee, häufig im
Alter
geschrieben (wobei
„Alter“ sowohl
kulturhistorisch wie
auch individuell und
psychodynamisch
unterschiedlich
definiert werden kann).
Sieht man die Gattung
„Memoiren“ so, dann
besteht der Untertitel
des Buches aus einem
Paradox. Dieses
Paradox legt nahe, dass
Bieler einen Rückblick
auf ein Kinderleben, das
sein
eigenes ist, fingieren
will. Beim flüchtigen
Lesen merkt man aber
schnell, dass
das Buch zwar – wie die
meisten Memoiren –
chronologisch erzählt,
allerdings
nur teilweise aus der
Sicht des Kindes.
Eingestreut sind immer
wieder Kapitel
oder Passagen, in denen
der Autor als
Fünfzigjähriger auftritt
und sein
Schreiben bzw. seine
Schreibhemmungen
kommentiert. Diesen
Kommentaren ist zu
entnehmen, dass der
Autor vorgibt, die reale
Geschichte seiner
Kindheit aus
seinem Gedächtnis
hervorzusuchen und in
sauberer Chronologie zu
erzählen. Eine
weitere Eigentümlichkeit
der sprachlichen
Gestaltung verstärkt das
Paradox: Die
Memoiren stehen durchweg
im Präsens, es wird also
andauernde Gegenwart
fingiert. Aber wie kann
ein Rückblick als
langsam vorrückende
Gegenwart
dargestellt werden?
Ich
glaube, dass bereits die
Anlage dieses
autobiographischen
Romans eine grundlegende
Schwäche aufzeigt. Das
Paradox ist
nämlich
produktionstechnisch
nicht auflösbar: Die
Sicht eines Kindes ist –
aus
der Gegensicht des
Erwachsenen – begrenzt,
vor allem dann, wenn sie
‚realistisch‘ erzählt
wird. Da sich keiner von
uns in die Kindheit und
ihre
Erlebniswelt
zurückbegeben kann, da
wir weniger Erinnerungen
aus der Kindheit
als an die Kindheit
haben, die
Kindheitserinnerungen
also – wie jedes gesunde
Menschengedächtnis vor
jeglicher
psychoanalytischen
Theorie uns sagt –
mannigfachen
Verzerrungen,
Verschiebungen,
Verdichtungen,
Verdrängungen usw.,
kurz:
Veränderungen,
unterliegen, muss jeder
Autor eine Methode
finden, wie er aus
seinem
Erinnerungsmaterial eine
Geschichte fingiert, wie
er also seine
Erinnerungsfragmente
ausphantasiert und
zusammenstellt bzw.
-fügt.
Da
Bieler aber so tut, als
berichte er nur
Erinnerungen aus
der Kindheit, diese
schön ordentlich
aneinanderreiht und
immer wieder als
leidend-erinnernder
Autor auftritt, drängt
sich, je länger man
liest, der
Verdacht auf, die
„Memoiren eines Kindes“
seien die Phantasien des
Autors über
seine Kindheit und
nicht, wie vorgegeben,
die authentischen
Erinnerungen.
Dagegen wäre überhaupt
nichts einzuwenden –
denn anders funktioniert
es
letztlich nicht –, wenn
sich die Phantasien nach
den Gesetzen der Fiktion
entfalten könnten und
nicht ein
Pseudo-Realismus
vorgetäuscht würde.
Anders
ausgedrückt: Die Anlage
des Romans – der innere
(Erinnerungs-)Monolog
des
Kindes – ist ein Trick,
auf den der Leser
hereinfallen soll. Er
soll nach dem
Muster „Kinder und
Narren sagen die
Wahrheit“ funktionieren,
aber da der
Erwachsene dauernd dem
Kind vorsagt,
gleichzeitig so tut, als
täte er es nicht,
wird die Glaubwürdigkeit
des Textes enorm
herabgemindert. Glaubwürdigkeit
ist hier textintern wie
-extern gemeint, bezieht
sich also auf die
Wahrscheinlichkeit und
innere Logik der
Textwelt wie auch auf
die reale Kindheit des
Autors.
Es ist
deutlich geworden, dass
ich als ‚der‘ Leser den
Roman
für misslungen halte.
Als Dokument einer
Aufarbeitung der
Kindheit ist er – vor
allem für
Psychoanalytiker und
ganz besonders für Alice
Miller und ihre
Gefolgsleute –
interessant, als
Kindheitsroman jedoch
erweckt er vor allem
Interesse, weil sein
Misslingen
aufschlussreich ist.
6.2
Der in sein Gegenteil
verkehrte
„Familienroman“
Auf dem
Hintergrund einer
misslungenen
Gegenübertragung möchte
ich mein apodiktisch
klingendes Urteil
begründen.
Man
könnte Bielers „Memoiren
eines Kindes“ als einen
ins
Gegenteil verkehrten
„Familienroman“
bezeichnen, in dem die
Eltern kein
mächtiges und schönes
Königspaar sind, sondern
der Vater ein
Schwächling, die
Mutter ein „Luder“ und
das Kind eine Kröte im
verdrecktesten Teil
eines
versiegten Brunnens.
Fast
alle wichtigen Figuren
bleiben unsympathische
Karikaturen, bis auf die
Großmutter Louise, von
der sich das Kind
anfangs
geliebt, am Ende aber
ebenfalls verraten
fühlt, und einen Onkel,
der dem Jungen
schließlich
Klavierspielen
beibringen soll. Die
Mutter, zentrales Objekt
der
Sehnsucht, ist „geil“,
kalt, falsch, lieblos
und aggressiv, der Vater
ewig
betrunken, schließlich
krank, ein verkappter
Betrüger und
Homosexueller. Auch
er kümmert sich kaum um
seinen Sohn, obwohl
dieser sich doch so sehr
väterliche
Aufmerksamkeit und
Anerkennung wünscht. Der
Junge, zu Beginn ein
Säugling und
gegen Ende sieben Jahren
alt, ist infolgedessen,
um im Schimpfjargon des
Romans
zu bleiben, ein
Angsthase, eine
„Heulsuse“, ein
„Hosenscheißer“,
quengelig und
aggressiv (immer wieder
spuckt er unmotiviert).
Da ihm verwehrt wird,
mit
anderen Kindern zu
spielen, da er zudem in
einer Art familiärer
Isolationshaft
gehalten wird, bleibt er
unfähig, auf andere
Kinder zuzugehen und
‚normal‘auf
Erwachsene zu reagieren.
Die Mutter hatte sich
ein Mädchen gewünscht
und lässt
nun den Jungen spüren,
dass sie ihn nicht mag.
Die Depravation durch
die Eltern
wird anfangs, nach einer
heftigen Szene, von der
Großmutter aufgefangen,
aber
im Laufe der Jahre
wenden sich Mutter und
Kind immer enger und
gleichzeitig
konfliktreicher einander
zu. Da das Kind kaum
„heraus“ und selten die
familiäre
Obhut verlassen darf,
besteht seine Welt aus
den Eltern, der
Großmutter,
gelegentlich
auftauchenden Verwandten
und ganz selten den
Erwachsenen und
Kindern der
Nachbarschaft. Das
zentrale Thema des
Romans ist das von dem
Kind
beobachtete Verhalten
der Mutter: Sie betrügt
den Vater immer wieder.
Das Kind muss
erleben, wie sie es mit
zwei Männern
gleichzeitig treibt, und
schließlich,
während Mutter und Sohn
den Vater im
Lungensanatorium
besuchen, ihn aber
eigentlich kaum sehen
(wollen), verführt sie
den Sechsjährigen auch
noch: es
kommt zum
Geschlechtsverkehr („Du
bist die Schönste, jaule
ich und stoße zu,
bis ich in mir selber
überlaufe.“).
Im Laufe
der Jahre begreift das
Kind – bzw. lässt den
Leser
ahnen –, dass die Mutter
ihn in Gefangenschaft
hält (sie erschwindelt
sogar –
auf die ihre eigene
weibliche Art – ein
Attest, das den
Schuleintritt des
Jungen verzögert), damit
er nicht ausplaudert,
was er gesehen hat. Ihr
„Gnade-dir-Gott-Blick“
schnürt ihm in den
wenigen Augenblicken, in
denen er die
Wahrheit sagen könnte,
den Mund zu. Trotzdem
liebt er sie und Hasst
vor allem
die Männer, mit denen
sie den Vater und
natürlich auch ihn
betrügt.
6.3
Zur Gestalt des Romans
Es ist
die erste Aufgabe eines
Autors, seine Phantasien
so zu gestalten, dass
sie von dem Leser als in
sich
stimmig, glaubwürdig,
sinnvoll, interessant
und spannend akzeptiert
werden. Mit
anderen Worten: Bevor
der Text die tieferen
Schichten des Lesers
erreichen kann
(ihn dadurch auf schwer
nachzuvollziehende Weise
fasziniert) und dabei
die innerpsychische
Zensur überlistet, muss
er die Schranke der
Wahrnehmungsbereitschaft
überschreiten. Dazu ist
nötig, dass er in seiner
Gestaltqualität vom
Leser
akzeptiert wird, und
diese bildet sich nach
kognitionsimmanenten
Gestaltregeln,
in der Übernahme und
gezielten Variation bis
Negation tradierter
Formmuster und
poetischer Gesetze.
Bielers
„Memoiren“ zeichnen sich
durch eine Reihe von
Merkmalen aus, die seine
Lektüre zu einer
Geduldsprobe
machen. Durchgängiges
Erzählprinzip ist die
Kumulation des
Immergleichen. Im
Grunde geht es in fast
alles Szenen darum, dass
das Kind, das sich nach
Aufmerksamkeit, Liebe
und Anerkennung sehnt,
nicht beachtet und
zurückgestoßen
wird und sich dafür
häufig durch Rückzug und
(auto-)aggressive
Reaktionen und
Phantasien rächt.
Relevante und
irrelevante Einzelheiten
werden in gleicher
Intensität erzählt, die
Techniken, das
Bewusstsein des Kindes
nachzuahmen, zum
Beispiel seine
Angstphantasien als
Wirklichkeit
darzustellen, wirken in
ihrer
Variationslosigkeit nach
einer Weile mechanisch
und plump. Die
Gefühlswelt des
Kindes erschöpft sich in
unerfüllter Sehnsucht
auf der einen und
Ängstlichkeit,
Angst, Wut und Hass auf
der anderen Seite. Ihm
fehlt etwas, was den
Reiz der
Kinderperspektive
ausmacht: die Neugier,
die andere,
verfremdende, vom
Erwachsenen verlernte
Sicht, das Staunen über
die zu entdeckende und
sich
entfaltende Welt, die
Vielfalt und
Unbedingtheit der
Gefühle.
In
unendlichen
Wiederholungen werden
die selben Muster
repetiert. Der Vater ist
dauernd betrunken, die
Mutter schielt nach
jedem Mann
und treibt es wohl auch
mit jedem und kümmert
sich nicht um ihr Kind,
die
Großmutter verhätschelt
es dafür und belügt es
dann, Verwandte kommen
zu Besuch
und feiern Geburtstage,
die mit einem Missklang
enden, Ausflüge führen
dazu, dass
das Kind heult und in
die Hose macht, seine
Wünsche werden nicht
oder zu spät
erfüllt, keiner spielt
mit ihm, kurz: eine Welt
ausnahmsloser
Lieblosigkeit.
Wiederholungen
beherrschen auch die
Sprache, die insgesamt
klischeehaft und
wenig prägnant ist:
Immer wieder „faucht“,
„zischt“, „giftet“,
„bellt“,
„keift“, „kreischt“ die
Mutter, dem Kind kommen
die Tränen, es schäumt
vor Wut,
muss sich übergeben oder
macht in die Hose,
Eltern, Großmutter und
Kind
schlagen sich
gegenseitig, bespucken
und beschimpfen sich. So
die Mutter das
Kind: „Du Ferkel, du
Dreckschwein, du
ekelhafter Kerl, du
Rabenaas“; das Kind
die Mutter: „Du
Miststück, du Ratte, du
Drecksau“; das Kind den
Vater: „Idiot“,
„Esel“, „Arschloch“. (Ich schätze die Zahl
der sich
wiederholenden
Schimpfwörter in dem
Buch auf weit über
tausend).
Die
Monotonie der
Wiederholungen führt
zwangsläufig zur
Langeweile beim Lesen,
die noch vertieft wird
durch die fehlende oder
nur
angedeutete Dramaturgie
der einzelnen Szenen wie
des ganzen Buches. Es
gibt
kaum Spannungsbögen,
Entwicklungen,
Überraschungen: Die
Verhaltensweisen der
Beteiligten und die
Dramatik ihrer
Kommunikation sind
vorhersagbar. Die
„Geschichten“ brechen
ab, die Ereignisse haben
keine Folgen (z.B.
beschäftigt
das Verschwinden des
Vaters in ein Sanatorium
das Kind überhaupt
nicht), die
einzelnen Kapitel sind
nicht oder kaum
miteinander durch
Handlungssequenzen
verknüpft.
Hinzu
kommt, dass die
präsentische Erzählweise
auf die Dauer
die Monotonie auch
sprachlich verstärkt.
Bekannterweise besteht
die paradoxe
Wirkung des präteritalen
Erzählens in der
Herstellung einer
fiktiven Gegenwärtigkeit
des Erzählten. Bei
gelegentlichem Wechsel
ins Präsens wird
Distanzlosigkeit,
innere Beteiligung und
Spannung erzeugt. Dies
funktioniert aber nur
durch den
Kontrast. Die
Ausschließlichkeit des
Präsens hebt seine
narrative Wirkung auf.
Längere im Präsens
erzählte Texte lassen
den Erzählfluss wie
zerhackt
erscheinen, erzeugen
eine Nähe, die keinen
Überblick erlaubt, und
wirken auf
die Dauer ermüdend.
Diese Wirkung wird in
Bielers „Memoiren“ noch
verstärkt
durch häufige Parataxe,
fehlenden Wechsel der
Erzähloptik und des
Erzähltempos.
Diese in
breiter Extensität statt
in punktueller
Intensität
erzählte Kindheitshölle
erweckt noch nicht
einmal Sympathie,
Anteilnahme oder
gar Mitleid, nicht etwa,
weil da nichts
Mitleidwürdiges passiert
wäre, sondern weil
die Technik, an diese
Gefühle im Leser zu
appellieren, nicht
funktioniert. Es
gibt, wie schon gesagt,
keine sympathischen
Figuren, noch nicht
einmal das
erzählende Kind stellt
sich als besonders
liebenswert dar: Es ist
im Grunde so
„unleidlich“, wie die
Mutter „böse“ und der
Vater schwach ist. Die
Ambivalenz
der kindlichen (und
mütterlichen?) Liebe
wird durch abrupte
Gefühlsschwankungen
dargestellt, nicht durch
das Essentielle an der
Ambivalenz: ihre
Vermischung.
Die
Kumulation des Jammerns
und Sich-Beklagens
stumpft den
Leser schnell ab, seine
Bereitschaft zum
Mitgefühl kehrt sich ins
Gegenteil um:
Er kann dieses Kind
nicht leiden, und im
Verlauf der
umfangreichen Lektüre
(382
Seiten) beschleicht ihn
– aufgrund des
überquellenden
Ressentiments und des
unnachsichtigen
Hasses des
Kind-Erwachsenen – das
Gefühl, Mutter und Vater
seien zwar
wahrscheinlich
unsympathische Personen
gewesen, hätten es aber
nicht verdient,
dauernd ins Unrecht
gesetzt zu werden. Die
„Memoiren“ lesen sich
wie die Rache
des erwachsen gewordenen
Kindes an seinen Eltern,
die sich nicht mehr
wehren
können, und verstoßen
dadurch eklatant gegen
das Prinzip poetischer
Gerechtigkeit.
Damit
ist ein weiterer, ganz
entscheidender Einwand
gegen den Roman
angeschnitten. Ich halte
die autobiographischen
Mitteilungen für
unglaubwürdig und
unwahrscheinlich. Dies
gilt vor allem für
die Wahrnehmungen,
Verhaltensweisen, die
Gedanken, Gefühle und
die Sprache des
Kindes, aber auch für
das Verhalten der
Mutter. Schon die
permanenten
Stimmungsumschwünge
(zwischen
undifferenzierter
Sehnsucht und ebenso
undifferenziertem und
maßlosem Hass) wirken
lehrbuchhaft
konstruiert. Seine
geradezu zwanghafte
Fixierung auf die
Eskapaden der Mutter und
die Tröstungen
seines „Schniepels“
lassen eher an die
Reaktionen eines
betrogenen Ehemannes
als an die eines Kindes
denken. Wie ein Hahnrei
spioniert das Kind der
Mutter
nach und lässt den Leser
ganz handfest teilhaben
an allen Freuden und
Leiden
erwachender Sexualität
wie in einem
Hardcore-Porno. Daher
verwundert es nicht,
dass
der Junge das
Verschwinden des Vaters
in ein Sanatorium kaum
wahrnimmt.
Außerdem scheint er
seine ersten sieben
Jahre in einer praktisch
geschichtslosen Zeit
gelebt zu haben. Die
Auswirkungen von
Nazismus und Krieg
finden so gut wie keinen
Niederschlag in dem
Bewusstsein des Kindes
und
dementsprechend auch
nicht im Text. Der
Memoirenschreiber
spricht schon als
Dreijähriger wie ein
Heranwachsender. Als
Säugling nimmt er das
Erröten der
Mutter wahr und hebt
diese Erinnerung fünfzig
Jahre in seinem
Gedächtnis auf.
„Erinnerungen“ dieser
Art gibt es Hunderte in
diesen „Memoiren“, und
der Autor
fragt nur rhetorisch, ob
er sein Gedächtnis nicht
überschätze, ob er die
Spuren
seiner Erinnerung nicht
für die einzige gültige
Wahrheit halte und des
Effekts
wegen manche Szenen zu
grell ausmale. Er
scheint nicht an der
Wirklichkeit
seiner Erinnerungsschübe
zu zweifeln:
„Er
könnte etwas erfinden,
um die
blinden Stellen
auszufüllen, doch es ist
ihm lieber, wenn er die
Bruchstücke,
die sein Gedächtnis
bewahrt, so
niederschreibt, als habe
das Kind, das er
selber war, ein Tagebuch
geführt.“
6.4
Die Umsetzung
psychoanalytischer
Klischees in Literatur
Der
nächste Schritt der
literarischen
Kommunikation bestünde
darin, dass der Text,
nachdem er von der
Wahrnehmungs- und
Sinnkontrolle akzeptiert
wurde, in die tieferen
seelischen
Schichten vordringen
könnte, um die
eigentliche Zensur vor
dem Unbewussten zu
überlisten. Dies kann
jedoch nicht gelingen,
wenn der Text von
vorneherein
abgewiesen wird – und
das heißt normalerweise:
nicht gelesen.
Da ich
den Roman untersuchen
wollte, habe ich ihn
natürlich
nicht zur Seite gelegt,
sondern die Gefühle der
Langeweile und des
Protests
gegen Unglaubwürdigkeit
und Ressentiment bis zum
Schluss ertragen. Ich
wollte
verstehen, warum die
Übertragung nicht
funktionierte, warum ich
dieses
„Protokoll“ eines Ganges
in die Tiefen der
Kindheit nicht
akzeptierte.
Dabei
spielt die schon
dargelegte Kritik an der
Gestaltung
des Buches eine Rolle.
Sie verhindert, dass ich
mich als Leser überhaupt
auf
die Welt des erzählenden
Autors einlasse. Ich
glaube ihm nicht, nicht
den
Einzelheiten seiner
Erinnerung, nicht der
Stimmigkeit seiner
ausschmückenden
Phantasien, schon gar
nicht seiner Sprache.
Was sich mir als
übermächtig (und
auch authentisch)
aufdrängt, sind die
Gefühle des Hasses und
der Rachsucht, die
der fünfzigjährige Autor
noch nicht überwunden
hat. Sie leiten seine
Phantasien, stacheln
sein Gedächtnis an,
„Erinnerungen“ zu
bilden, und führen
die Hand beim Schreiben.
Allerdings versteckt der
Autor diese Gefühle
hinter
den angeblich realen
Erlebnissen des Kindes:
Er stellt sie also als
faktisch
begründete dar und nicht
als Ausgeburten eines
(womöglich durchaus
berechtigten) Gefühls.
Genau an diesem Punkt
verweigere ich ihm als
Leser die
Gefolgschaft. Ich
glaube, dass Bieler in
seiner Kindheit sehr
gelitten hat,
aber die Art und Weise,
wie er dieses Leiden bei
mir ablädt, bringt mich
gegen
ihn auf: gegen ihn als
Kind und gegen ihn als
erwachsenen Erzähler.
Sobald er
als reflektierender
Autor auftritt, versinkt
er in Larmoyanz („Ich
bin ein
lebender Leichnam. Wer
hat mich dazu
verdammt?“) und
Selbstgerechtigkeit
(Seine
Mutter ist „die Frau,
die mich geboren und
mein Leben verdorben
hat“) und
entblößt sich außerdem
durch peinliche
Trivialitäten:
„Wer den
Acker der Vergangenheit
bestellt, stößt auf
Dreck und Gold.“
„Es gibt
andere Geheimnisse,
tiefere, und mein
tiefstes Geheimnis bin
ich mir selbst.“
Die
„Memoiren“ lesen sich
wie das
Ergebnis einer
misslungenen
Psychoanalyse oder wie
die Umsetzung
psychoanalytischer
Klischees in Literatur.
Auch hier, wie schon bei
Fels, nur
direkter und gröber,
scheinen
psychoanalytische
Theorien als Anlass des
Phantasierens gewirkt zu
haben. Die Erkenntnis
von der kindlichen
Sexualität,
die Theorie der
Verführung,
Vorstellungen von dem
Ödipus-Komplex und
seinen
Auswirkungen haben das
‚Erinnerungs‘-vermögen
des Autors gelenkt. Dem
kleinen
Jungen werden
Beobachtungen und
Verhaltensweisen
zugeschrieben, die als
typisch
pubertär/adoleszent
einzuordnen sind: als
Deckerinnerungen, die
sich auf frühe
Kindheitserfahrungen
beziehen und womöglich
konkrete Beobachtungen
aufgreifen.
Sie kennzeichnen sich
durch ein Bewusstsein
aus, das dem eines sich
selbst
psychoanalysierenden
Erwachsenen entspricht.
Aber die Brechungen
durch die
Erinnerungsgeschichte
müssten in den Text
einfließen bzw. durch
narrative
Strategien umgesetzt
werden – nicht unbedingt
nur durch Reflexion und
Kommentierung, d.h.
durch das Herstellen
einer textvermittelten
intellektuellen
Kontrolle. Das kindliche
Bewusstsein stellt sich
für uns als die terra
incognita des
Unbewussten dar. Sie
zu erkunden ist eine
abenteuerliche Aufgabe,
die eine Durchlässigkeit
der
psychischen Instanzen,
eine verminderte Abwehr
und unter Umständen auch
Hilfe
von außen erfordert,
welche die Kräfte des
Ich ersetzen und
unterstützen. Sie
darzustellen jedoch
erfordert noch mehr: ein
starkes und
funktionierendes Ich,
Distanz zu den eigenen
Gefühlen, Bewusstsein
für unbewusste
‚Ausrutscher‘ und
vor allem:
funktionierende Methoden
der Gestaltung.
6.5
Das Labyrinth des
Wiederholungszwangs
Einige
dieser Methoden sollen
umrissen werden.
Dass die
Geschichte unserer
Erinnerungen an die
Kindheit
komplex ist, sagt uns,
neben der Psychologie,
die Erfahrung. Ihre
Brechungen
sind mehrfach: Kindliche
Erinnerungsspuren und
Erfahrungen werden durch
kindliche Wünsche und
Ängste geprägt,
verändert und verdrängt.
Während der
Pubertät/Adoleszenz
greift sie der
Jugendliche in einer Art
Wiederholung seiner
Kindheitsdramen wieder
auf, vermischt sie mit
seinen augenblicklichen
Erfahrungen, reichert
sie durch Bilder und
Gefühle an und verändert
sie nach
seinen augenblicklichen
Bedürfnissen. Die
Erinnerungs- und
Trauerarbeit des
Erwachsenen – häufig
während
lebensgeschichtlicher
Krisen – wälzt dieses
gegorene Gebräu aus
allen bisherigen
Entwicklungsphasen noch
einmal um, unter
Umständen unter dem
Einfluss einer
Psychoanalyse, die
selbst die Vorstellungen
und Gefühle nach
bestimmten Mustern und
Konzepten ordnet. Das
sprachliche
Ausphantasieren kann
diese Umwälzungen
begleiten, zu weiteren
Revokationen
führen und dann
übergehen in einen auf
Evokation angelegten
Prozess der
künstlerischen
Gestaltung.
Sobald
diese
Vermittlungsprozesse
reflektierend, womöglich
noch abstrakt, in den
autobiographischen Text
einfließen, wird dieser
allzu
leicht kopflastig und
kommentierend und im
besten Falle die
Darstellung einer
Eigenanalyse. Man ist
wie der Tänzer, der
seine Bewegungen
plötzlich im Spiegel
entdeckt und vor lauter
Selbst-Bespiegelung
verkrampft und unsicher
wird. Das
im eigentlichen Sinne
poetische Problem liegt
darin, die kindlicheUnbefangenheit wieder zu
erreichen – was
nicht faktisch, sondern
höchstens in der Fiktion
gelingen kann. Mit
anderen
Worten: Die
Ursprünglichkeit und
Andersartigkeit des
kindlichen Erlebens muss
als evokatorische Kraft
sprachlich ‚poetisiert‘,
d.h. wirksam werden.
Dabei
sind vor allem zwei
Aufgaben
zu bewältigen: Die
Aufgabe, die Distanz zum
Kindheitstrauma
herzustellen und
die Wirkung des
Wiederholungszwangs in
sein Gegenteil zu
verkehren.
Zu 1.:
Eine noch nicht
verarbeitete
Kindheitstraumatisierung
wirkt in einer
gefühlsbetonten
Direktheit der
Darstellung in der Regel
auf den Leser abstoßend
– weil er zum Komplizen
des
Kind-Erwachsenen gemacht
werden soll. Genau dies
scheint mir bei Bieler
vorzuliegen. Was der
Leser aber auf jeden
Fall benötigt, ist eine
Darstellung,
die ich-synton ist und
Ich-Stärke (Distanz)
vermittelt und damit
eine Hoffnung
auf die Bewältigung der
Traumatisierung. Das
Trauma selbst ist nicht
nur erschreckend
– als Trauma –, es ist
seelische Verwüstung,
Leere und drohende
Verkrüppelung.
Solange es dem Autor
nicht gelingt, den
Reichtum im Verlust und
Mangel, die
größere Sensibilität
durch die Wunde
darzustellen, verfehlt
er sein Ziel, den
Leser zu erreichen. Der
Mitleidseffekt verpufft
schnell.
Zu 2.:
Denken wir wieder an
Bielers
Buch: Immer dieselben
Handlungs- und
Erlebnismuster, dieselbe
Gefühlslage, eine
fehlende Entwicklung,
die Kindheitshölle als
Reizentzug und Qual:
Bieler
überträgt genau dies auf
den Text, und zwar nach
dem Prinzip der
Verdopplung.
Damit verdorrt auch der
Text und seine Fähigkeit
zur Evokation. Das
Prinzip der
Kumulation führt, wie
wir schon gesehen haben,
nicht zur Erhöhung der
Wirkung,
sondern zur Monotonie.
Die Frage ist, ob ein
solches Kunstmittel,
wenn es denn
überhaupt eines ist,
funktionieren kann.
Vermag man, abgekürzt
gefragt,
Langeweile darzustellen,
indem man langweilig
darstellt und dadurch
Langeweile
erzeugt?
Die
Antwort eins lautet:
Nein, denn ein
Interesse-Band
herzustellen
zwischen Text und Leser
ist die vorrangige
Aufgabe jeder
Textproduktion. Der
Leser liest schließlich
freiwillig und kann ohne
weiteres das Buch zur
Seite
legen. Die Antwort zwei:
Nein, denn die Monotonie
und Langeweile einer
depravierten Seele muss
sich in der Darstellung
in das Gegenteil seiner
Darstellungsmittel
verkehren. Auch hier
können wir eine
„Umkehrung der
Affektwirkung“ (Rank/
Sachs) beobachten: So
wie wir die Tragödie nur
genießen
können, wenn sie uns
fesselt, unterhält und
uns in ihren Bann zieht,
uns aber
nicht in einen
tragischen Vorgang
verstrickt, aus dem wir
nicht mehr
herausfinden, so können
wir uns von der
Monotonie und dem Leid
einer Kindheit
nur dann erschüttern
lassen, wenn
gleichzeitig die
Möglichkeit der
Überwindung
aufgezeigt wird, nicht
unbedingt als
Heilsversprechen und
falscher Trost,
sondern durch die
Souveränität der
formalen Gestaltung.
Wenn der Held auch
stirbt, so übersteht er
seinen Tod doch als
lebendige Figur, und mit
dieser
Figur überleben Schöpfer
und Schöpfung, Autor und
Text. An dieser
Unsterblichkeit
partizipiert auch der
Leser.
Ich
möchte wieder auf
Bielers Buch
zurückkommen. Der Autor,
dem die Gestaltung
seiner Kindheitshölle
misslingt,
ist noch, so spekuliere
ich, in seinem
Wiederholungszwang
befangen, in dem
Gefängnis seiner
Traumatisierungen. Er
reproduziert in seinen
Phantasien die
Leere seines frühen
Lebens. Aber kein Leser
lässt sich freiwillig in
die
Rituale zwanghaften
Wiederholens einspannen,
ohne dass er auf andere
Weise
reichlich belohnt werden
will. Während der Autor
unablässig durch und mit
seinem kleinen alter
ego leidet und
sich vor Sehnsucht
verzehrt, heult und vor
Wut schäumt, wendet sich
der Leser
gelangweilt und ohne
Mitgefühl ab – zumal er
merkt, dass es gar nicht
das Kind
ist, das redet, sondern
der Erwachsene, der in
die Rolle des Kindes
schlüpft,
um ungestraft etwas
sagen zu können, was ihm
sonst verwehrt wäre.
Der
Wiederholungszwang
findet sogar seine
symbolische
Wiederkehr im Text:
„Sag
irgendwas, sag, dass ich
die
Schönste bin! flüstert
eine Stimme von weither.
Lass mich in Frieden!
brülle
ich, stoße den Teddy aus
dem Bett, und der Zug
schleift mich durch die
Nacht.“
Der
ambivalente Hass auf die
verführende Mutter wird
auf den Teddy
verschoben, der
eigentlich derjenige
ist,
der als einzig
nichtambivalente
‚Person‘ stets für das
Kind da ist und ihm
zuhört. Der Junge stößt
ihn – als Zeichen für
sein Erwachsenwerden und
seine
‚Befreiung‘ – aus dem
Bett und muss sich von
dem Wiederholungszwang
weiter
durch die Nacht seiner
Erkenntnis schleifen
lassen. Die Verschiebung
geht aber
noch weiter: Auch der
Leser wird, wenn man so
will, von dem unleidlich
leidenden Autor aus dem
Text gestoßen.
7.
Lesarten: Die
Subjektivität der
Interpreten und die
Rolle der
Psychoanalyse
Bielers
Roman durchbricht eine
ganze
Reihe von
Zensurschranken, und
dementsprechend war zu
erwarten, dass die
Reaktion der
literarischen Kritik
zwiespältig sein würde.
Und tatsächlich gab
es hymnisches Lob wie
entschiedene Verrisse.
Da mein Urteil über den
Roman sehr
kritisch ausfällt und im
Kontrast steht zu
gewichtigen und
umfangreichen
Rezensionen (die ich,
bis auf eine, bewusst
nach der Formulierung
des vorigen
Kapitels gelesen habe),
möchte ich diese
Situation der Rezeption
reflektieren,
weil sie m.E. weitere
Erkenntnisse über meine
Fragestellung deutlich
macht.
Zunächst
ist zu sagen, dass
unterschiedliche
Lesarten und
darüber hinaus auch
unterschiedliche Urteile
über ein Buch normal
sind und von
der Lebendigkeit der
Kommunikation im Dreieck
Autor – Text – Leser
zeugen. Sie
weisen vor allem darauf
hin, dass der Anteil der
Leserpsyche am
Lektüreakt
nicht hoch genug
eingeschätzt werden
kann. Je nach den
Wahrnehmungs- und
Gestaltmustern, die der
Leser internalisiert hat
und mit denen er – qua
Erwartungshaltung – den
Lektüreprozess steuert
und je nach den
Strategien von
Abwehr und Anpassung,
mit denen er auf einer
zweiten Ebene die
Lektüreinhalte
und ihre Vermittlung
filtert, wird er etwas
anderes lesen und dann
auch
einschätzen.
Von
daher weiß ich
natürlich, dass mein
Urteil, das ich für
plausibel und begründet
bzw. begründbar halte,
ebenso subjektiven
Wahrnehmungsmustern und
Verzerrungen unterliegt
wie die Urteile anderer
Leser.
Und im Sinne eines
offenen literarischen
Gesprächs können die
Lesarten wie
Urteile, so sehr sie
sich auch widersprechen,
nebeneinander
stehenbleiben, auch
wenn die kognitiven
Dissonanzen irritieren.
Aus
diesem Grunde und aus
Platzgründen möchte ich
auch eine
Diskussion der
Differenzen weitgehend
unterlassen.
Festgestellt kann
werden, dass
von den vier mir
vorliegenden Rezensionen
diejenige von Gerhard
Schulz (FAZ)
sich weitgehend mit
meiner Reaktion und
meinem Urteil deckt,
während die drei
anderen von Tilmann
Moser (Die
Zeit),
Paul Kersten (Der
Spiegel) und
Birgit
Lahann (Stern)
zu völlig
gegenteiligen Schlüssen
kommen.
Gerhard
Schulz fühlt sich zuerst
„auf den Arm“ genommen,
reagiert, als er merkt,
Bieler meine es ernst,
mit ironischer Distanz
und
verweist auf eine Reihe
sprachlicher und
erzählerischer Mängel.
Er glaubt
„Bieler kein Wort“, hält
die Memoiren für „leer“,
sieht die Figuren als
„Schemen“, die weder
„Verständnis (geschweige
denn Sympathie)“
erwecken, und
sieht statt „der Fülle
erzählten Lebens“
„Selbstmitleid und
hilflose Fragen,
die Tiefe nur
vortäuschen“. In seinen
Augen schaut Bieler „aus
der Perspektive
eines alternden Voyeurs“
auf die mütterliche
Sexualpraxis:
„kalkulierte
Schlüpfrigkeiten für
einen lustsüchtigen
Leserkreis“. Über der
Arbeit habe
Bieler, so Schulz,
„vergessen, dass Kunst
nicht ohne Wahrheit
auskommen kann.“
Birgit
Lahann paraphrasiert
Bielers Buch distanzlos
und
bewundernd („ein
spracharchitektonisches
Meisterwerk“), nimmt es
als
aufregendes
Lebensdokument eines
Fremden. Ungeniert fragt
sie in einem
Telefongespräch bei dem
Autor nach, aber dieser
verweigert die Antwort
auf die
meisten ihrer
Nachfragen, erklärt
jedoch, dass er niemals
eine Psychoanalyse
gemacht habe und nicht
wisse, ob nach der
Niederschrift des Buches
„ein
Aufatmen“ da sei.
Wieweit Lahanns Haltung
vorgegeben ist durch die
Textmuster
der Illustrierten und
die Erwartungen der Stern-Leser,
muss dahingestellt
bleiben. Aber wenn, dann
wird hier und ebenso im
Spiegel
an einen „lustsüchtigen
Leserkreis“ appelliert,
denn die im Buch
geschilderten Details
werden in beiden
Rezensionen breit
berichtet oder zitiert.
Paul
Kersten, ein
Schriftsteller, der
während der Lektüre an
einem inzwischen
veröffentlichten Buch
über (s)eine Kindheit
schrieb, wurde von
Bielers Roman tief
berührt. Er schaut mit
Bewunderung auf die
Leistung seines
Kollegen, dem es in
seinen Augen gelungen
ist, unsere
Abwehrschranken zu
durchbrechen,
und der dem Diktum „Du
sollst nicht merken“
nicht mehr gehorchte.
Kersten
zitiert Kafkas berühmte
Forderung an das „Buch,
das die Axt sein soll
für das
gefrorene Meer in uns“
und sieht diese
Forderung „mit
seelenerschütternder
Kraft“ eingelöst. „Auf
grandiose Weise“ habe
Bieler die „Höllenfahrt
in die
Abgründe der eigenen
Kindheit“ „literarischen
Ausdruck verliehen“.
Kersten
stellt sich ganz auf die
Seite des verletzten
Kindes gegen die Mutter,
die, so
Bieler, von Kersten
zitiert, „mich geboren
und mein Leben verdorben
hat“ und
der jetzt „ein
gnadenloser Todesstoß“
versetzt wird. Immer
wieder zeigt sich
Kersten mit großen, ja
pathetischen Worten von
Bielers „Schrei nach
Liebe“
berührt: „Hier hat
jemand um sein Leben
geschrieben“.
„Mitleidlos“,
„tabuzerstörend“,
mit „kalter
verzweifelter Wut und
selbstzerstörerischer
Erinnerungsobsession“,
mit dem „unnachsichtigen
Blick des Kindes für
detailscharfe
Augenblicksbilder“
habe sich Bieler „die
verdrängten Schrecken
der eigenen Kindheit aus
der Seele gerissen“.
„Fünf Jahrzehnte nach
dem frühen Leid nimmt
das Kind gnadenlos Rache
für
Liebesentzug und
seelische und
körperliche
Grausamkeiten, rechnet
ab mit den
Erwachsenen, die ihm
Wunden geschlagen haben,
die noch heute bluten.“
Kaum
weniger begeistert
reagiert der
Psychoanalytiker
Tilmann Moser. Er ist
„ungläubig und
fassungslos und spürt
doch: Es stimmt
alles, das erfindet
einer nicht, es ist nur
zu viel.“ Begeistert
nennt er den
Roman, sich
wiederholend, ein
„literarisches
Kunstwerk“ und sieht
hier sogar Hamlets
Kindheitsgeschichte,
„von der Shakespeare
konkret noch nichts
wusste“,
nachgeholt. Vor allem
aber sieht er in dem
Roman eine „auf
ungeheuerliche Weise
erfolgreiche“
„Expedition in den
traumatischen Untergrund
der Erinnerung“: „Sie
bereichert unser Wissen
vom Menschen [...] als
Literatur [...] wie auch
als
Krankenbericht, den man
sich als Textband zu
einer umfassenden
Neurosenlehre
vorstellen könnte,
vielmehr als Atlas für
die Bedingungen ihrer
Entstehung.“
Den „Zweiflern“, die
sagen: „An so frühe
Dinge kann man sich doch
gar nicht mit
solcher Genauigkeit
erinnern“, entgegnet
Moser, Bieler kehre „in
einer luziden
Trance“ zurück in „die
überhitzten Vorgänge im
mörderischen ödipalen
Dreieck“,
und zwar aufgrund seiner
„außergewöhnlichen
Begabung, die
Wahrnehmungsformen
des Kindes zu
reproduzieren und
gleichzeitig den Kampf
gegen diese Wahrnehmung
zu schildern [...] Man
erlebt den Versuch der
Verdrängung und
Verleugnung, der
verzweifelten
Uminterpretation als
aktuellen Vorgang“. In
dieser „fast
osmotischen Nähe des
erwachsenen
Schriftstellers zum Kind
in ihm“ gelinge es
Bieler, die
Vergangenheit
„unverarbeitet und
unbearbeitet“
aufzubrechen: „Das
Erwachsenenwissen hat
sich kaum vermischt mit
dem kindlichen
Erlebnis.“ Mosers
emphatische, ja
hymnische Begeisterung
lässt ihn nicht
übersehen, dass der
Roman „zu lang und durch
Wiederholung einander
ähnlicher Szenen
aufgebläht“
erscheint und
gelegentlich ein
„zensierendes
Selbstmitleid“
durchklingt, aber
er lässt sich doch von
„dem pornographischen
Sog“ in den „Sumpf“ des
„infernalischen
Dreiecks“ ziehen. Moser
reagiert mit
„Schwindel“, „mit der
Mischung von Ekel,
Faszination und
Schauder“ auf diesen
„psychosomatischen
Roman“, aber er deutet
auch an, welche Rolle er
sich zugedacht haben
könnte:
„In einer Psychoanalyse
hat der Patient einen
Begleiter, so wie Dante
seinen
Vergil hatte beim Gang
durch die Hölle. Manfred
Bieler hat nur sich,
seine
Sprache, die Kraft der
Bilder und vielleicht
den idealen Leser, den
er sich
vorgestellt haben mag,
der zum Zeugen wird, ein
wenig wie ein Gott, der
dies
alles einhüllen könnte
in ein gnädiges
Verstehen, aus dem ein
Sinn entstünde.“
Alle
fünf Lesarten sind, dies
sei
noch einmal betont,
berechtigt. Sie
entsprechen einer
jeweils einzigartigen
kommunikativen Struktur
unter den erläuterten
Bedingungen von Abwehr
und
Anpassung. Jede
Rezeptionshaltung könnte
kategorisiert werden je
nach Stärke
der Abwehr, und das
hieße auf den ersten
Blick, dass Gerhard
Schulz und ich am
wenigsten den
schonungslosen Blick in
das Verdrängte und
Unbewusste der
Kindheit zuzulassen
bereit wären. Man könnte
sagen, wir beide
rationalisierten
unsere Abwehr mit
Argumenten, die sich auf
die literarische
Qualität bezögen.
Ich bin
allerdings der Meinung,
dass man die
Argumentation
noch eine Schraube
weiterdrehen muss, und
gerade die von großer
Faszination
zeugende Rezension des
engagierten und
erfolgreichen
Psychoanalytikers und
Literaten Tilmann Moser
bestärkt mich darin.
Mein Verdacht ist, dass
er vor
allem deswegen so
angetan von Bielers Buch
ist, weil er seine
Erkenntnisse und
die Erkenntnisse seiner
Zunft so lupenrein
dargestellt findet, und
dies noch
nicht einmal als
psychoanalytische
Phantasie (wie er es
selbst schon einmal
über das erste
Lebensjahr getan hat),
sondern als in „Trance“
gewonnene, „in
osmotischer Nähe“
erlebte Realität. Freud
verwarf bekanntlich
seine
Verführungstheorie und
hielt die Erzählungen
der Erwachsenen über die
Schrecken
der Kindheit schließlich
für kindliche
Phantasien. Vor allem
Alice Miller
versuchte in ihren sehr
erfolgreichen Büchern („Das Drama des
begabten Kindes“
[1979], „Am Anfang war
Erziehung“ [1980],
„Du sollst nicht
merken [1981])
diesen Theorieschwenk
wieder rückgängig
zu machen und fahndet
seitdem überall nach den
Verbrechen der
Erwachsenen an
ihren Kindern. Niemand
will leugnen, dass
solche Verbrechen
durchaus vorkommen
und verschwiegen werden
und mancher einer unter
ihnen ein Leben lang
leidet.
Aber ebenso wenig ist zu
leugnen, dass
Erinnerungen nicht
filmisch festhalten,
sondern letztlich aus
vielen Quellen gespeiste
Phantasien sind. Eine
dieser
Quellen ist die
Psychoanalyse selbst,
auch dann, wenn der
Erinnernde sich
keiner
psychoanalytischen
Behandlung unterzogen
hat. Nicht zuletzt kann
die
Lektüre von Alice
Millers Büchern, wie ich
selbst an mir erfahren
haben, eine
intensive
Kindheitsrecherche unter
ihren spezifischen
Vorzeichen auslösen. Gar
zu gern sehen wir uns
als Opfer unserer
Eltern, und schon gar,
wenn dazu auch
wirklich Anlass besteht,
wie bei Bieler
anzunehmen ist.
Ob
Manfred Bieler nun
wirklich nicht auf der
Couch gelegen
hat, wie er behauptet,
oder vielleicht doch, er
scheint auf der Couch
gelesen
zu haben, und er hat, so
meine These, die
Erinnerungen an seine
Kindheit nach dem
Programm der
Psychoanalyse
‚eingelesen‘. Die
Konzepte über die
kindliche
Sexualität, über den
Ödipuskomplex, über die
Verführung und
Misshandlung der
Kinder und ihrer Folgen,
über die „schwarze
Pädagogik“ des
Schlagens,
Schimpfens und des
„bösen Blicks“, über das
Merkverbot, über die
kindlichen
Abwehrmaßnahmen, über
die Ambivalenz von
Müttern und Kindern
usw.– all das, was
Bieler uns vorführt,
kennen wir aus
psychoanalytischen
Büchern. Die Präzision
der
Erinnerungen kann aber
nur, und dafür gibt es
Hunderte von Beispielen,
nur eine
fingierte sein. Daher
drängt sich mir auch die
Vermutung auf, dass das,
was
hier als mutiger Abstieg
in die Kindheitshölle
dargestellt wird, nicht
von
unerschrockener
Durchbrechung der Abwehr
zeugt, sondern von einer
bewussten
oder unbewussten
Anpassung an
psychoanalytische Denk-
und Phantasieschablonen;
dass,
mit anderen Worten, die
Psychoanalyse der Abwehr
dient, um eine verdeckte
Wahrheit zu meiden. Man
kann in einem Bereich
atemberaubend offen
sein, um
einen anderen, der für
einen selbst
gefährlicher ist, zu
verschweigen.
Nach der
Drehung dieser
Denkschraube könnte ich
sagen, dass
meine Abwehr auf die
Anpassungs-Strategien
des Buches nur eine
Antwort darauf
ist, dass Offenheit und
Ehrlichkeit verwechselt
werden. Rache und
Ressentiment
sind keine guten Führer
in der Unterwelt der
Kindheit, sie führen
kaum zu mehr
Einsicht und können
daher auch dem Leser nur
ein verzerrtes Bild der
Wahrheit
bieten. Die klare
Einteilung der
Menschheit in Opfer und
Täter entspricht nicht
der Realität, auch nicht
der psychischen, und der
poetischen schon gar
nicht,
und wenn, dann nur in
den Niederungen des
Trivialen. Der
Wiederholungszwang,
dem Bieler in seiner
Form der psychischen wie
literarischen
Bearbeitung nicht
entgehen konnte, wendet
sich schließlich gegen
ihn selbst: Die Qual
lässt nicht
nach, wie man dem Ende
des Buches (im Grunde
dem gesamten Buch)
entnehmen kann,
wie auch seine Äußerung
Birgit Lahann gegenüber
vermuten lässt. Die Qual
überträgt sich aber auch
auf den Leser und
provoziert ihn zu
eindeutiger
Stellungnahme. Dies mag
man, wenn man will, als
ein Positivum des Romans
herausstellen.
8.
Ludwig Harig: Weh dem,
der aus der Reihe tanzt.
Roman
Dieser
autobiographische (1990
erschienene) Roman, der
ebenfalls während des
Nationalsozialismus
spielt und
der als erlebendes
Subjekt einen Jungen
(Mann) zwischen sechs
und Anfang
zwanzig in das Zentrum
seiner Erzählungen
stellt, kann als
Gegenstück zu
Bielers „Memoiren“
gelesen werden. Beide
Texte zielen eine
ungewöhnliche
Offenheit im
chronologischen Bericht
autobiographischer
Erlebnisse an, aber
beide gehen sie
unterschiedliche, ja
entgegengesetzte Wege.
Während Bielers
Kindheitsgeschichte sich
im Raum der Familie
abspielt, fast ohne
Hinweise auf
das
gesellschaftlich-politische
Milieu, in dem das Kind
aufwächst und die
Familie lebt, richtet
Harig sein Augenmerk
ganz entschieden auf das
Kind und
den Jungen in diesem
Milieu. Und da er, 1927
in Sulzbach/Saar
geboren, während
des Dritten Reiches
heranwuchs, geht es um
die als exemplarisch
aufgefasste
Erlebniswelt eines
jungen Nazi.
8.1
Die Selbstdokumentation
eines kleinen Trommlers
Auch in
diesem
autobiographischen
„Roman“ wird in präziser
Detailfreude berichtet.
Im Gegensatz zu Bieler,
der
die seelische Abgründe
zu ergründen versucht,
erzählt Harig von dem
politisch-sozialen
Sumpf, wie er sich in
der Hermetik einer
deutschen
Randprovinz nach 1933,
in dem „hemm“ ins Reich
geholten Saarland,
ausbreitete.
Dort wächst er auf in
dem Mief eines preußisch
geordneten, bräunlich
eingefärbten
Kleinbürger-Milieus. In
zwölf thematisch
geordneten Kapiteln
lesen
wir die
Selbst-Dokumentation
eines jungen
Fahnenschwingers und
Trommlers, der
von Anfang an dazu
gehört, wenn
Andersartige ausgegrenzt
werden: „Weh dem, der
aus der Reihe tanzt“! Im
Mikrokosmos einer
Provinzjugend spiegelt
sich der
Makrokosmos einer
Epoche: Ideologie,
Indoktrination und
individuelle
Entwicklung verschmelzen
miteinander, blutrote
Fahnen wehen, markige
Sprüche
werden an die
Bürgerhäuser geschrieben
(„Juda verrecke“),
frohgemute Lieder
gesungen („... wir
werden
weitermarschieren, wenn
alles in Scherben
fällt“),
Indianerspiele gehen
über in militärischen
Drill, an das
anekdotenreiche
Internatsleben schließt
sich, kurz vor
Kriegsende, die
Schinderei des
Arbeitsdienstes an. Am
Horizont brennt
Frankfurt, und in weiter
Ferne fällt
Stalingrad. Schemenhaft
zieht die Vernichtung
unwerten Lebens durch
das Bewusstsein
des Jungen, die Witze
über die Seife sind
dagegen drastisch. Als
kräftig geduscht
wird, heißt es: „Jetzt
haben wir in einem
Aufwasch eine
kinderreiche
Judenfamilie
abgerieben.“ Das Reich
zerfällt, aber der junge
Ludwig Harig
bleibt, gleich dem
Helden eines
Abenteuerromans,
unverwundbar, er
übersteht
alle Zerstörungen ohne
jegliche seelische oder
körperliche Schramme.
Der
Frieden vereint wieder
die gesamte Familie in
Sulzbach, sogar der
ehemalige
französische Erzfeind,
nun Freund geworden,
wird einbezogen, und die
Welt ist
in Ordnung.
8.2
Der erzählerische
Zugriff
Der Gang
in die Vergangenheit
wird
immer wieder von heute
aus begonnen und
beendet, die
Erinnerungen werden
nachrecherchiert, die
alten Orte neu
aufgesucht, Personen
befragt, Dokumente
gelesen. Auf diese Weise
erweitern sich die
Erinnerungen, gewinnen
auch
größeren
‚dokumentarischen‘ Wert
und werden dann noch mit
großer Lust
ausphantasiert. Diese
Lust überträgt sich auch
auf die sprachliche
Gestaltung.
Harig verfällt
gelegentlich in eine
regelrechte
Beschreibungsgier und
malt
Nebensächlichkeiten aus,
deren Notwendigkeit
nicht immer einleuchtet,
weil sie
entweder irrelevant oder
zu persönlich bleiben.
So wird gleich zu Beginn
des
Romans, nach dem kurzen
Einleitungsabsatz, der
das Ausgrenzungsthema
anschneidet, auf zwei
langen Seiten die
Fassade des „Neuen
Schulhauses“ in
ihrem „pedantischem
Gleichmaß“ geschildert.
Lange bevor Harig uns am
Ende
dieser Beschreibung die
„unbarmherzige Lehre der
Steine: Weh dem, der aus
der
Reihe tanzt“ mitteilt,
hat der Leser
verstanden, dass die
Fassade der Schule,
in die der Junge nun
eintritt, symbolisch zu
verstehen sei. Aber er
muss Sache
und Symbol genau
erfahren: eine
Ortsbeschreibung
(„mitten im Dorf“,
„genau
gesagt auf der linken
Seite der Hauptstraße,
wenn man von
Liebergallshaus
heraufkommt“), einen
historischen Abriss
(„‘Wir streben nach
einem Platz an der
Sonne‘, hatte der Kaiser
im Jahre 1902 gesagt“),
eine architektonische
Baubeschreibung mit
allen Fachbegriffen
(„Hartbranntfassade“,
„deutscher
Kreuzverband“,
„ornamental skulptierte
Sandsteine“, „mächtiges
Blendwerk“),
dann reflektierende
Einschübe („ein neuer
Geist?“ – „Die Fassade
erinnert an
eine breite preußische
Ordensbrust“ – Der Geist
von oben war der
preußische
Obrigkeitsgeist. War
auch dieser Geist nur
vorgetäuscht?“) und die
väterlichen
Ausrufe der Bewunderung.
Und mit deutlicher Lust
am Wort und
gleichzeitigem
Gefühl der Bewunderung
beschreibt der Sohn
seines Vaters die
Fassade des Ortes,
der für ihn den Eintritt
in eine lange
verschwiegene,
vielleicht sogar
verdrängte Welt
darstellt. Diese sich
dem Leser aufdrängende
Liebe für
„Regelmaß“ ist Programm.
Ordnung ist für Ludwig
Harig wenn nicht das
ganze
Leben, so doch das ganze
Geheimnis seines
autobiographischen
Schreibens. Das
poetologische Credo
seiner Erinnerungsarbeit
verrät er dem Leser:
„Ich
erinnere mich an Wörter,
an
Namen, an fremdartig
klingende Begriffe, in
meinem Gedächtnis jedoch
stehen sie
nicht festumrissen wie
Blöcke am Weg,
Kilometersteine, jeder
an seinem Platz,
an denen ich
entlanggehen könnte, um
ein Ziel zu erreichen,
im Gegenteil. Sie
sind
übereinandergestürzt wie
Türme und Pfeiler bei
einem Erdbeben, und nun
liegen sie in meinem
Kopf, zugeschüttet die
einen, zerbrochen die
andern, und
mühsam grabe ich sie
wieder aus. Hätte ich
nicht immer schon einen
Sinn fürs
Ordnen gehabt, sie wären
vergessen und längst
verrottet, diese Wörter
wie
Meilensteine, die nun,
einer nach dem andern,
in die Reihe kommen.“
Der
Ich-Erzähler, der
heutige Ludwig
Harig, mischt sich immer
wieder in das Erleben
des Kindes Ludwig Harig
ein, der
rhetorisch begabte
Pädagoge fährt dem
stammelnden und
staunenden, grölenden
und
schweigenden Kind über
den Mund – weil er
schließlich alles besser
weiß. Durch
die detailverliebte, ja
-versessene
Beschreibung, den
ordnenden Eingriff und
die gelegentlich
sentimentalen Kommentare
des Erwachsenen verliert
die Welt des
Jungen ihre eigene
Perspektive, und so ist
es auch nicht
verwunderlich, dass
das erlebende Ich so
scheinbar seelen- und
gefühllos bleibt, eine
Marionette,
die zum Zwecke der
Demonstration hampeln
muss.
Bezeichnend
dafür ist die
Schilderung des Jahres
1945: Der
Spuk endet, die
prägenden Erlebnisse der
Nazizeit sind wie
weggewischt. Man
fragt sich: Wollte der
heutige Ludwig Harig
genau dies zeigen, oder
hat der
junge Ludwig Harig dies
so erlebt? Der
Zusammenbruch des
Nazi-Reiches hätte
doch gerade für ihn
einen Lebensbruch und
eine Krise darstellen
müssen. Aber
davon ist nichts zu
spüren. Die gegen Ende
der Kapitel
auftauchenden Gefühle
von Trauer, Schmerz und
Schuld – sie sind
Gefühle des erwachsenen
Autobiographen und
übertragen sich kaum auf
den Leser.
8.3
Dokumentation versus
Authentizität
Die
geschilderten narrativen
Strategien appellieren
an Leser, die weniger
gern in sich
hineinschauen als
über sich hinweg auf die
bunte Welt ihrer Epoche.
Harigs saarländische
Provinz
während des Dritten
Reiches wird aus dem
Blickwinkel des Jungen
überzeugend
dokumentiert. Wie bei
den alten Niederländern
entsteht ein fein
ausgemaltes
Milieubild. Man nickt
zustimmend: So wird es
wohl gewesen sein! Dass
Ludwig
Harig sich hier ohne
Scham als strammen Nazi
schildert, nimmt den
Leser nicht
gegen ihn ein, weil die
erzählte Welt – trotz
der dokumentarischen
Treue –
quasi-fiktionalen
Charakter angenommen
hat.
Wer sich
in seiner
Gegenübertragung durch
genau solche
Muster der Abwehr und
Anpassung – Verschiebung
auf die äußere Welt,
pädagogisch
geordnete Klarheit usw.
– angesprochen fühlt,
wird dieses Buch mit
Interesse
und Gewinn lesen.
Allerdings
können die
Erzählstrategien auch
eine andere Wirkung
hervorrufen. Dadurch,
dass die äußere
Welt die innere Welt
überwuchert, das
ausgemalte Detail die
seelische Reaktion
zur Seite drängt, wenn
nicht gar überdeckt,
verliert das erinnerte
Material an
Evokationskraft und
symbolischer Intensität.
Der „Sinn fürs Ordnen“
lässt
scharfe Bilder
entstehen, auch
eindringliche, aber er
ermüdet auch. Die
Faszination am Ausmalen
und Erläutern spürt der
Leser stark, sie steckt
ihn
jedoch nicht an, weil
seine Phantasie
sterilisiert wird, sein
Gefühl kalt
bleibt. Zu sehr bleibt
auch das erzählende wie
das erzählte Ich
Erzählfunktion,
daher zu schemenhaft,
als dass es den Leser
zur Identifikation
einladen könnte.
Aber wer will nicht als
Leser in einem anderen
etwas über sich
erfahren, zum
Beispiel über sich in
einer extremen
historischen Situation?
Die seelischen
Verstrickungen mit all
ihrer Begeisterung, mit
Distanzierung und
Entwicklung,
mit Scham und Schuld
bleiben ausgespart oder
irritieren nicht mehr,
weil sie
aus überlegener
Erwachsenensicht
benannt, geordnet und
‚erledigt‘ werden.
Für mich
zeugt Harigs Roman
entweder von zu starker
Abwehr,
die – mit wenigen
Ausnahmen – nicht
zulässt, dass das
Abgewehrte noch
beunruhigt, oder von
einem Zuviel an
distanzierter Haltung,
welche die
Trauerarbeit längst
hinter sich gelassen hat
und nun schon das
Schreckliche der
Verführung und des
Missbrauchs eines
Jugendlichen durch den
Geist und Körper
einer (Un-)Zeit
pädagogisierbar machen
kann. Was der Roman an
dokumentarischem
Wert gewinnt, verliert
er gleichzeitig an
Authentizität.
9.
Authentizität
Ich habe
drei Werke untersucht,
die
versuchten, im Zeitalter
der Psychoanalyse eine
Antwort zu finden auf
die
Frage, unter welchen
Bedingungen eine
Autobiographie heute
möglich ist. Alle
drei zeichnen sich durch
Offenheit aus – aber
auch durch Ehrlichkeit?
Da wir
beim Lesen nicht in
erster Linie auf eine
Person reagieren,
sondern auf ein
Werk, muss ich anders
fragen: Zeichnen sich
die drei Werke durch
Authentizität
aus? Im Gegensatz zur
subjektiven Offenheit
und zum schwer
erreichbaren Ideal
der Ehrlichkeit, die
auch unbequeme und
schmerzhafte Wahrheiten
miteinschließt,
verstehe ich
Authentizität als
Wirkgröße, d.h. als
Qualität eines Werks,
die in
der Kommunikation
zwischen dem Autor und
seinem Leser entsteht.
Rekapitulieren
wir kurz, wie die drei
Autoren die
angeschnittene
Problematik zu lösen
versuchen: Ludwig Fels
stellt offen und
distanzlos, ja
hyperbolisch die Gefühle
von Trauer, Schmerz und
Schuld dar und
schildert ebenso offen
seine Phantasien über
sein Verhältnis zur
Mutter.
Manfred Bieler scheint
regelrecht davon
besessen zu sein, das
normalerweise
Tabuisierte bloßzulegen.
Er wühlt in dem großen
Berg der ödipalen
Schmutzwäsche
und zerrt sie an die
Öffentlichkeit. Ludwig
Harig dagegen vermeidet
ganz die
Schilderung der
Psychodramen seiner
frühen Kindheit, und
zwar schon dadurch, dass
er seine Erinnerungen
erst mit dem
Schuleintritt beginnen
lässt. Er meidet aber
auch den Widerhall und
die Wiederholung der
seelischen Stürme
während der
Pubertät/Adoleszenz: Die
Eltern sind keine
konfliktbesetzten
Personen, und
heftige Liebesdramen
sowie sexuelle
Bedrängnisse während des
Heranwachsens
fehlen völlig. Er ist
auf eine andere Weise
offen: Er gibt
unumwunden und in
aller Detailfreude zu,
dass er ein (junger)
Nazi war. Er durchbricht
also einen
anderen, inzwischen
durchlöcherten, aber
prinzipiell noch
geltenden
gesellschaftlichen
Verdrängungs- und
Leugnungszustand, der
zwar erlaubt, dass
man – in vielfältiger
Weise – über den
Nationalsozialismus
redet, der aber
nahelegt, die eigene
Rolle in diesem
„Komplex“ zu
verschweigen. Auch in
diesem
Bereich der Trauerarbeit
zeigt sich die Differenz
von „offen“ und
„ehrlich“.
Welche
Strategien der Abwehr
und
Anpassung überwiegen nun
bei den drei Autoren? Zu
welchen Formen der
Kompromissbildung
gelangen sie? Fels,
getrieben von Schmerz
und Schuld, geht vor
allem seinen
Gefühlen nach und
versucht sie möglichst
direkt und emphatisch in
Sprache
umzusetzen. Dies
geschieht in den Bahnen
der Etikettierung und
Kommentierung,
der psychoanalytisch
geleiteten Phantasien
und vor allem in einer
überwuchernden
Metaphernwelt, die noch
am ehesten in der Lage
ist, die Abwehr
des Lesers (und wohl
auch des Autors) zu
unterlaufen. In ihr
liegt die zentrale
kommunikative Strategie
der Erzählung: In ihren
assoziativen Bildern
schwingt
das mit, was durch
intellektualisierende
Formen nicht wegzuordnen
ist, und
überträgt sich unbewusst
auf den Leser, der eine
„archetypisch“ wirkende
Kraft
– als Irritation, als
Provokation – spürt,
ohne dass er sie
vorschnell
erledigen kann.
Bieler
steht noch unter dem
Diktat des Hasses und
der
nachträglichen Mordlust.
Diese „eingeklemmten“
Gefühle treiben ihn
dazu, alle
Abwehrschranken
niederzureißen, um in
einer öffentlichen
Verbrennung das
ödipale Dreieck in
Flammen aufgehen zu
lassen. Aber
gleichzeitig folgt er
gehorsam Alice Millers
Merksätzen, phantasiert
nach dem
psychoanalytischen
Lehrbuch und ordnet
schließlich seine
„Erinnerungen“ schön
säuberlich wie ein
allwissender Erzähler.
Harigs
Buch, ebenfalls Ausdruck
einer Trauerarbeit, muss
mit
dem Anteil von Scham und
Schuld aufgrund der
Identifikation mit der
Nationalsozialismus
fertigwerden. „Nein, ich
kann nichts ungeschehen
machen.“ So endet sein
Roman.
Dabei vernachlässigt er
weitgehend die
Innendimension der
seelischen Vorgänge
und überformt sein
Erinnerungsmaterial, in
dem er es einer
tiefgehenden
sekundären Bearbeitung
unterwirft, es überprüft
und räumlich, szenisch
und
didaktisch ordnet. Sein
Bilderbogen informiert
uns, aber fasziniert er
uns
auch?
Der
Durchbruch durch die
Abwehr verlangt sofort
nach einer
„Frontbegradigung“ und
nach einer neuen Abwehr,
die durch Anpassung an
akzeptierte Muster der
Darstellung und des
Phantasierens erreicht
werden kann.
In der Kompromissbildung
der Werkgestalt sind die
dynamischen Prozesse der
Abwehr und Anpassung
eingefroren, können aber
durch den Leser wieder
‚aufgetaut‘ werden und
in ihm ihre Wirkung
entfalten, die je nach
der ihm
eigenen Abwehrstruktur –
und seines
„Identitäts-Themas“ –
unterschiedlich ist.
Übereinstimmungen
autobiographischer
Abwehr und Anpassung
sind in den untersuchten
Werken nachzuweisen,
aber keine einheitlichen
Formen;
alle drei versuchen sie,
mit dem Problem
gesteigerter Offenheit
und den sich
daraus ergebenden
Chancen und Risiken auf
ihre Weise
fertigzuwerden. Der
Einfluss
der Psychoanalyse ist
deutlich zu spüren,
sogar indirekt bei
Harig, auch wenn er
durch die Einengung des
Erzählbereichs
ausgeschlossen werden
soll.
Hat nun
die Psychoanalyse
geholfen,
die Abwehr zu
durchbrechen, oder
diente sie selbst in
erster Linie der Abwehr?
Diese schon gestellte,
aber noch nicht
beantwortete Frage
müssen wir erneut
aufgreifen. Über die
Autoren ist eine Aussage
nur schwer zu treffen,
über die
Funktion der
Psychoanalyse in den
drei Werken ist jedoch
einiges gesagt worden.
Ihre Rolle bei Harig
bleibt weiterhin unklar;
für Fels und seine
Erzählung
machte sie sich als
Phantasieschablone, die
eine schnelle Ein- und
Wegordnung
erlaubte, eher als
störende Abwehrfunktion
bemerkbar. Was die
„Memoiren“ von
Bieler anbetrifft, so
erlaubte sie dem Autor
zwar, wie mir scheint,
überhaupt
erst einen Zugang zu
seiner Kindheit, aber
gleichzeitig gab sie ihm
die
Möglichkeit an die Hand,
die eigentliche
Trauerarbeit von sich
wegzuschieben,
indem sie ihn in seinem
Gefühl, Opfer zu sein,
verharren ließ und auf
diese
Weise den
Wiederholungszwang
perpetuierte. Eine
Auflösung des
ursprünglichen
Gefühls fand
offensichtlich nicht
statt, und
dementsprechend bleibt
die
literarische Gestaltung
von starker Abwehr und
fehlender Distanz
geprägt. Der
Leser spürt vor allem
die Illustration einer
psychoanalytischen
Theorie, und
gerade diese Tatsache
lässt die „Erinnerungen“
zwar als offen, aber
nicht als
ehrlich, authentisch und
wahr erscheinen.
Wie
entsteht aber nun
„Authentizität“? Ein
konkretes Beispiel mag
andeuten, in welcher
Richtung die
Antwort zu suchen ist.
In dem
ersten Kapitel seines
Romans schildert Harig
die
Erinnerung an seinen
Klassenkameraden René,
den Andersartigen,
Ausgeschlossenen, den
Außenseiter, dem das
Diktum „Weh dem, der aus
der Reihe
tanzt!“ gilt. Schon der
erste Schultag bietet
ein Bild, das sich als
symbolischer Schlüssel
für das weitere Werk und
darüber hinaus als
symbolische
Aussage über die
Wirklichkeit des
Nationalsozialismus
lesen lässt. Dieser
Erinnerung, die in ihren
Details überaus klar,
sinnlich, auch
einleuchtend,
fast zu romanhaft ist,
geht Harig nun nach,
d.h. er recherchiert
ihren
Wahrheitsgehalt, indem
er ehemalige Nachbarn
des René befragt und
Dokumente
sichtet. Dabei muss er
feststellen, dass seine
Phantasie eine Figur
erfunden
hat, die es so gar nicht
gab. Zuerst reagiert er
ungläubig: „Mir scheint,
als
sei das Leben
trügerischer als die
Erinnerung.“ Dann sucht
er einen Ausweg aus
der Erkenntnis, dass er
einer „heillosen
Täuschung“ erlegen sei:
„Die
Erinnerung hat mich nur
halb betrogen.“
Schließlich kommt er zu
der
melancholischen
Erkenntnis: „Ich habe
mich geirrt. Ich habe
den Falschen für
den Richtigen gehalten,
habe aus dem Unreinen
einen Unberührbaren
gemacht,
damit ich nicht gar zu
schwer leiden sollte
wegen unseres Folterns.“
Harig
widerruft nicht nur
seine Erinnerung,
sondern unterstellt sich
auch Motive des
Selbstschutzes.
Allerdings,
und dies ist
entscheidend, hat Harig
die
„erfundene“ Erinnerung
nicht aus seinem
autobiographischen Roman
getilgt,
sondern als einführende,
deutlich symbolträchtige
Eingangsszene stehen
gelassen.
Dadurch bestätigt er
indirekt seine erste
Reaktion „Mir scheint,
als sei das
Leben trügerischer als
die Erinnerung“. Und
tatsächlich findet sich
in der Romaneröffnung
eine Wahrheit, welche
die Wahrheit des Autors
ist, aber ebenso die des
betroffenen Lesers, der
sich in ihr
wiedererkennen kann.
Auch
wenn Harig in seinem
Buch seinen
„Täuschungen“ und
ihrer Logik nicht traut
und sie immer wieder
einer nachträglichen
Prüfung und
Korrektur, zumindest
Kommentierung
unterzieht, so haben sie
ihn doch,
wenigstens in diesem
Fall, überlistet. Sein
„kreatives Ich“ (Charles
Mauron)
erfand eine Erinnerung
und schuf in der
„Täuschung“ eine
Wahrheit, die sich mit
dem Leser gegen das
Bewusstsein des Autors
verbünden und sich
hinter seinem
Rücken durchsetzen kann.
Aus der Erinnerung wurde
also eine Erfindung und
aus
dieser schließlich eine
bewusstseinsfähige
Einsicht. In diesem
Dreierschritt
kann der Autor (und mit
ihm der Leser)
Regression und
Progression vereinen,
seinen
psychischen Konflikt
Bild werden lassen und
damit aufheben. In der
Symbolkraft
des Werks – auch des
autobiographischen –
zeigt sich letztlich, ob
es dem
„kreativen Ich“ gelungen
ist, Authentizität in
der Erinnerung
herzustellen. Und
diese Symbolkraft ist es
auch, die deutlich
macht, ob der Autor in
der Lage
war, jene Unbefangenheit
wiederzuerlangen, aus
der die Wahrheit mit der
Evidenz
des Traumes spricht.