Annäherungen
an eine psychoanalytische Theorie
der literarischen Form
in:
Freiburger literaturpsychologische Gespräche
Bd. 9, Würzburg
(Königshausen & Neumann) 1990
(Um
einen Teil der Nachweise gekürzt, ohne
Literaturliste.)
1.
Aspekte der literarischen Form
In
der Form liegt bekanntlich die Ars poetica.
Sie ist das offensichtliche Geheimnis, das schwer
zu fassen und doch die Voraussetzung der Wahrnehmung
ist, das bloße Vorstellungen und bildlose
Gefühle kommunikabel macht und schließlich
zu Literatur werden läßt.
Form ist auch deswegen so geheimnisvoll, weil
sich in ihr die Ausdrucksbedingungen des Unbewußten
entfalten. Ist dies so, dann müßte
eine psychoanalytische Literaturwissenschaft
ein vornehmliches Interesse an ihr haben. Denn
ist die Psychoanalyse als therapeutisches Instrumentarium
und hermeneutische Methode nicht vornehmlich
an den Ausdrucksformen der häufig recht
eintönigen Phantasiesubstrate interessiert?
Im therapeutischen Rahmen stellt sie selbst
ein spezifisches Setting bereit, ein Medium,
wenn man so will, untersucht und deutet Formen
des Widerstands, der Abwehr, der Übertragung
und der Kompromißbildung. Liegt es nicht
nahe, daß sie als hermeneutische Methode
der Literaturbetrachtung in analoger Weise ihre
Aufmerksamkeit auf formale Gesichtspunkte lenken
sollte?
Die Psychoanalyse der literarischen Form umfaßt
eine Reihe von Dimensionen bzw. Aspekten, auf
die ich nur in unterschiedlicher Gewichtung
eingehen kann.
Grundlegend für meinen theoretischen Ansatz
ist die quasiaxiomatische Feststellung, daß
Literatur als Kommunikation begriffen werden
muß. Das Werk allein ist toter Buchstabe:
Es braucht einen Leser, der die Buchstaben zum
Leben erweckt und entziffert, genauso wie es
einen Autor voraussetzt, der sich und sein Leben
in den Buchstaben ausgedrückt hat, um anderen
etwas mitzuteilen. Die Trias Autor-Werk-Leser
ist Dreh- und Angelpunkt einer psychoanalytischen
Untersuchung der literarischen Form.
Natürlich sind nicht nur Autor, Werk und
Leser die einzigen Faktoren der literarischen
Kommunikation. Mit ihnen automatisch gegeben
sind die Codes, die die Kommunikation erst ermöglichen.
Hinzu kommen, um nur zwei weitere Faktoren zu
nennen, die Vermittler, ohne die Literatur (heute)
nicht stattfindet, und die soziale wie historische
Situation, in der Literatur existiert.
Ich verstehe "Form" also in einem
umfassenden Sinn: Mein Formbegriff zielt nicht
nur auf die im Werk "geronnene" Struktur,
sondern auch auf die zu ihr gehörenden,
jeweils vor- und nachgeschalteten Prozesse in
Autor und Leser, die sie bedingen und von ihr
ausgelöst werden. Außerdem meine
ich, daß es zum Verständnis des hier
vorgelegten Konzepts unerläßlich
ist, wenigstens einige Worte über Psychogenese
und Funktion der Form(-arbeit) zu verlieren.
Literarische Form kann daher untersucht werden
unter dem Aspekt a) der Kreativität, b)
der Produktion, c) der Rezeption und d) der
Form-Elemente im Werk.
2. Die literarische Form als kommunikativer
Vermittler, Kompromißbildung und Spiel
Wird Literatur als Kommunikation verstanden,
hat die literarische Form die Funktion, eine
spezifische Kommunikationsstruktur aufzubauen
sowie aufrechtzuerhalten und in ihr Botschaften
("Inhalte") zu vermitteln. Form ist
auf der einen Seite Ausdruck des Autors und
gleichzeitig Appell an den Leser, und zwar auf
einer bewußten, vorbewußten und
unbewußten Schiene. Wie ein Autor ein
Thema entwickelt, eine Geschichte anschaulich
macht, eine Handlung dramatisch zuspitzt oder
eine Stimmung lyrisch einfängt, immer läßt
er sich von einer (vor-)bewußten Absicht
leiten und fügt bewußt die ihm zur
Verfügung stehenden Mittel zusammen; gleichzeitig
bedingen diesen Vorgang unbewußte Impulse
und schießen als Einfälle immer wieder
ein. Da während des kreativen Vorgangs
die Grenzen zwischen ICH und ES durchlässiger
sind als in der normalen sozialen Interaktion,
gibt es einen breiten Bereich vorbewußter
Prozesse.
Dieser Vorgang verläuft rückgekoppelt:
Die einmal erreichte Form einer Phantasie wird
wieder eingegeben und verändert, je nach
Zielvorgabe, "psychodramatischem Substrat"
(von Matt 1972) und unbewußter Abwehr,
den weiteren Ablauf der Formungen. Über
neue Assoziationsbrücken entstehen Einfälle,
das heißt: neue "Abkömmlinge
des Unbewußten" (Freud) werden bewußt
und durch die organisierende und synthetisierende
Arbeit des ICH beherrschbar. Eine zunehmende
Ordnung und Transparenz schafft Sicherheit und
damit weitere Einfallsmöglichkeiten für
unbewußte Impulse. Der rationale, sekundärprozeßhafte
Vorgang der Kunst-Arbeit wird immer wieder angereichert
durch primärprozeßhafte Verschiebungen,
Verdichtungen und Veränderungen der Traum-Arbeit
und, natürlich, angepaßt an den verfügbaren
poetischen Code, an die präsumtiven Erwartungen
der Leser und die ÜBER-ICH-Anforderungen,
denen der Autor sich unterwirft.
Zum Schluß entsteht ein Gebilde, das in
all seinen Ausprägungen als Kompromißbildung
begriffen werden muß: Die literarische
Form im Werk ist ein Vermittlungspunkt zwischen
Transformationen der Tiefenstruktur im Autor
und ebensolchen im Leser. Unbewußte Wünsche,
in traumatischen Situationen gebildete Fixierungen,
diffuse Affekte und Phantasien durchlaufen im
Autor den Filter der ihm eigenen Abwehr- und
Anpassungsstruktur und gerinnen zu einer Werkform,
die vom Leser aufgenommen wird und in einem
reziproken Verlauf vom Leser entsprechend einer
ähnlichen Abwehr- und Anpassungsstruktur
decodiert und "verflüssigt" wird.
Hinzu kommt noch ein Gesichtspunkt, der, so
scheint mir, die Kompromißbildungen der
Kunstform unterscheidet von denen des Traums,
des Tagtraums oder des neurotischen Symptoms.
Zum einen schießen in die Determinationslinien
von ES-Impuls und ICH-Abwehr immer wieder Elemente
"von außen" ein: Die literarische
Tradition stellt formale Muster bereit, die
übernommen werden und die dann selbst selektierend
und induzierend auf Phantasien einwirken. Das
ICH muß, will es überhaupt in einem
kulturell vorgeprägten System wahrgenommen
werden, sich der sozial anerkannten Ausdrucksmöglichkeiten
bedienen. Auf diese Weise konfrontiert mit literarischen
Vorbildern, Gattungsnormen, medialen Bedingungen,
relativieren sich die individuell eingefahrenen
Strukturen von Impuls und Abwehr.
Im Prozeß künstlerischer Arbeit,
so ist anzunehmen, verselbständigt sich
das "soziale Ich" zu einem "kreativen
Ich" (Mauron 1975), bildet sich ein "kreatives
System"(Müller-Braunschweig 1984a),
in dem das ICH, relativ unabhängig von
neurotischen oder psychopathologischen Verhärtungen,
mit den formalen Elementen und damit auch den
Inhalten "spielen" kann. In der spielerischen
Variation, Neukombination, Permutation usw.
der Elemente erlebt das ICH sich funktionsstark
und genießt sein eigenes Können.
Was entsteht, ist im besten Fall ein Gebilde,
dem man seine Leichtigkeit, Durchlässigkeit
und Offenheit noch anmerkt, das als "offenes
Kunstwerk" (U. Eco) seine Rezeption zwar
steuert, aber nicht festlegt: Es erzeugt Lesarten
und zeugt auf diese Weise von seiner ihm eigenen
Polyvalenz.
3.
Kreativität
Die Psychoanalyse der Kreativität ist ein
weites Feld, auf dem es noch viel zu ackern
gibt. Sie untersucht die Voraussetzungen dessen,
was ich als Werkform und Kommunikationsstruktur
begreife und ist daher für die psychoanalytische
Theorie der literarischen Form unverzichtbar.
Ich muß mich aber aus Raumgründen
auf Andeutungen beschränken.
Man kann davon ausgehen, daß Künstler
eine angeborene und/oder sehr früh erworbene
Sensibilität für Formen, Werte und
Rhythmen haben und daß sie diese entsprechend
geschickt einzusetzen vermögen.
Darüber hinaus spielen meines Erachtens
spezifische Entwicklungsmuster der frühen
Kindheit eine bedeutende Rolle:
Die frühe Mutter muß dem Kind besonders
liebevoll zugelächelt haben, bevor sie
es dann einem starken Verlusterlebnis aussetzte.
Hat das Kind die Möglichkeit, sich selbst
Übergangsobjekte zu schaffen und sich an
ihnen festzuhalten, sich durch sie zu stabilisieren,
dürfte eine weitere Voraussetzung späterer
Kreativität geschaffen sein. Vielleicht
ist es nur eine Spekulation, wenn ich annehme,
daß für den späteren Wort-Künstler
das eigene Lallen und "Monologisieren"
als Ersatz für die Mutterstimme von besonderer
Bedeutung ist.
Einige Monate später in der Entwicklung
des Kindes spielt ein anderes Verhaltensmuster
eine Rolle, das vor allem von den Kleinianern
herausgearbeitet worden ist: der Prozeß
von "loss and reparation", von Zerstörung
und Neuaufbau. Objekt und Selbstobjekt werden
zerstückelt und fragmentarisiert, um dann
wieder zu einer Einheit zusammengefügt
zu werden. Auch hier erkennt man ein Muster,
das die Formarbeit auszeichnet: Der Autor zerstört
Bilder von sich und seinen "Objekten"
und setzt sie dann liebevoll wieder zu einem
Ganzen zusammen; er gewinnt dem Chaos seiner
Innenwelt und der Sinnlosigkeit der Realität
einen Sinn ab, indem er das Chaos zu ordnen
versteht.
Auf diese beiden Prozesse folgt in der Wiederannäherungsphase
ein dritter. Im Reifungsmuster ist der Vater
als Dritter angelegt, der zu mehr Autonomie
und zu einem neuen, weniger belasteten Verhältnis
zur Mutter verhilft. Dieser Triangulierungsvorgang
überlagert ebenfalls die beiden vorhergehenden
Prozesse. Der Vater kann hilfreich die Autonomie
des Kindes stützen und fördern und
ihm somit das Gefühl gesunden Selbstvertrauens
geben, es außerdem intellektuell, verbal
und motorisch fördern. Er kann aber auch
schwach sein bzw. nicht vorhanden - ein bei
Kreativen offensichtlich häufiger Fall
-, so daß das Kind zu wenig Hilfe erhält,
zu wenig stimuliert wird und sich seine Autonomie,
bei aller Gefahr zu scheitern, selbst erkämpfen
muß. In diesem Fall ist die Entwicklung
verbaler, generell kognitiver Fähigkeiten,
die Ausbildung des ICH-Systems, von besonderer
Wichtigkeit: Da die "Welt" dem Kind
die Hilfe versagt, muß es sich selbst
eine Welt schaffen.
Wir erkennen in diesen Entwicklungsphasen ein
Muster, das sich ähnelt und das in der
Motivations- wie in der Wahrnehmungsstruktur
seine Analogien hat. Es ist das Muster von Sicherheit
und Verunsicherung, von Verlust und Ersatz und,
in Umkehrung, von Zerstörung und Neuaufbau,
Abwenden und Hinwenden. Gerade während
der ersten Triangulierungsphase lassen sich
Prototypen kreativer Verhaltensweisen zeigen:
Das Kind ahmt den Vater bzw. die Eltern nach
und entwickelt dadurch seine eigenen Fähigkeiten,
es fügt sich auf diese Weise in die bestehende
Kultur ein. Gleichzeitig ist es aber durch ruhelose
Neugier getrieben, muß alles ausprobieren,
auseinandernehmen, neu bauen, es muß nein
sagen und spielerisch die fremde Welt erkunden
und eine eigene kreieren. Was es auf diese Weise
lernt, wird es später, auf einer höheren
Stufe und in einem anderen Medium, wieder reaktivieren
können: als Voraussetzung, einer eigenen
fiktionalen (Sprach-)Welt Gestalt zu geben.
Die geschilderten Muster, die während dieser
Zeit besonders deutlich im Verhalten des Kindes
hervortreten, sind etwas Transkulturelles und
schon neurophysiologisch angelegt. Es handelt
sich um den Regelkreis von Neugier, spielerisch-explorativem
Verhalten und Sicherheitsbedürfnis, um
den Kreislauf von Orientierungsreaktion, Aufmerksamkeitsfixierung,
Gewöhnung und Entwöhnung, um den "Aktivierungszirkel",
in dem lustvoll erlebt wird, wie eine Spannung
langsam aufgebaut wird und dann schnell wieder
abfällt.
Diese Regelkreise produktiv zu beherrschen,
wird für den späteren Künstler
von entscheidender Bedeutung sein: Zum einen
handelt es sich hierbei um die Grundlagen für
den spielerisch-explorativen Einsatz formaler
Elemente, zum anderen geht es um die kognitiven
und affektiven Gestaltmuster, die die Rezeption
eines Werks steuern.
In der Adoleszenz, so nehme ich an, wiederholen
sich diese Vorgänge auf einer höheren
Entwicklungsstufe, und jetzt kann zum Beispiel
der Triangulierungsprozeß des werdenden
Autors ganz konkrete Züge annehmen. Der
junge Autor kann einen Vater (bzw. ein Vatersubstitut)
haben, der ihm ein Vorbild ist, ihn stützt
und Sicherheit gibt; er kann aber auch einen
eher schwachen und ambivalenten Vater haben,
so daß der Autonomieprozeß auf eigene
Faust verlaufen muß oder sogar gegen den
Vater. Gerade in der bürgerlichen Gesellschaft
zeigt sich häufig, daß der Sohn durch
die Wahl einer künstlerischen Tätigkeit
sich von der Welt des Vaters absetzt und sich
über die Kunst eine eigene Autonomie verschafft,
sich auf diese Weise, wenn man so will, selbst
trianguliert.
Während die gerade beschriebenen Vorgänge
häufig ohne direkten Einfluß auf
die künstlerische Formarbeit verlaufen,
eher nur motivationale Grundlagen bereitstellen,
bildet sich während der Adoleszenz durch
die Aufnahme der poetischen Codes, der formalen
Muster der Literatur, die Möglichkeit heraus,
den eigenen Phantasien, Affekten und traumatischen
Fixierungen eine kommunikative Form zu geben.
Es gibt keinen Schriftsteller, der nicht auch
viel gelesen und auf diese Weise sich Vorbilder
angeeignet hat, die ihm erlauben, ihm helfen,
sich selbst auszudrücken und mitzuteilen.
Es ist auch nicht zufällig, daß,
wie viele Schriftstelleräußerungen
belegen, sich während der Adoleszenz der
unausrottbare Wunsch bildet, "Dichter"
zu werden. Da die Wurzeln bis in die früheste
Kindheit zurückreichen - die Ureinheit
des Mutterparadieses soll in der vollkommenen
Einheit des Werks wiederhergestellt werden -,
ist die unauslöschliche Energie dieses
Wunsches verständlich. Hinzu kommt, daß
"Dichter werden" bedeutet, immer wieder
zu versuchen, die Gefahr narzißtischer
Fragmentarisierung zu bannen und an der Heilung
einer tiefen Wunde zu arbeiten. Gerade bei diesem
Gesichtspunkt ist der Formaspekt besonders auffällig.
Aufgrund des skizzierten Hintergrunds läßt
sich die Formarbeit als "regressive Selbstpassage"
(Sterba), als Wiederholungszwang und Trauerarbeit
beschreiben, als Re-Inszenierung der Kindheitsdramen
im Kostüm der Erwachsenenwelt (Breuer 1986)
oder als Bearbeitung der Lebensgeschichte mit
dem Ziel der Selbsttherapie. Dabei werden zum
einen frühe Traumen kathartisch aufgearbeitet,
indem man Erinnerungssymbole schafft für
die zentralen Konflikte und gleichzeitig einen
Ansprechpartner sucht, mit dem man gemeinsam
"tagträumen" und sich die Schuld
teilen kann (Sachs 1972). Zum anderen, und dies
ist meines Erachtens von größerer
Bedeutung, wird die "Heilung des Selbst"
(Kohut 1981) angestrebt durch ein immer wieder
neues Zusammenfügen der Fragmente, durch
individuelle und autonome, aber gleichzeitig
auch kollektiv anerkannte Sinnkonstitution,
durch den "verschobenen Narzißmus"
(Sachs 1972) auf die Formschönheit des
Werks und seinen Erfolg, durch das Gefühl
der Vollkommenheit aufgrund der Re-Introjektion
des Gelungenen und durch das Erleben des funktionierenden
"kreativen Systems", das heißt
durch das Erleben von Durchlässigkeit,
ICH-Stärke und -Souveränität.
4.
Produktion
Es ist häufig, sowohl von Autoren selbst
als auch von Interpreten, gesagt worden, daß
ein Autor nur ein Thema habe bzw., will man
nicht reduktionistisch erscheinen, einige wenige.
Dieses Thema erscheint in vielfachen Variationen
als "persönlicher Mythos", als
obsessionell besetzte Metapher (Mauron 1962)
im Gesamtwerk wieder, und wir können erschließen,
daß in ihm die Kraft versteckt ist, die
die Werkphantasien hervorbringt.
Um das Problem zu vereinfachen, beziehen ich
mich auf ein einziges Werk. Der Autor ist beherrscht
und fasziniert von einem zentralen Wunsch, Konflikt,
Trauma oder Affekt, von etwas meist Tiefverborgenem,
in der frühen Kindheit Wurzelndem. Dieses
"Thema" kann nun als Generator für
die Transformationsprozesse angesehen werden,
die, im Widerspiel von Wunsch und Abwehr, aus
unbewußten Vorstellungs- und Affektkernen
eine bewußte und schließlich kommunikable
Phantasie entstehen lassen. Hierbei spielen
die Mechanismen der Traumarbeit eine Rolle,
primärprozeßhafte Verschiebungen,
Verdichtungen und Visualisierungen, die vage
Bildsequenzen, symbolartige Gebilde, Assoziationsketten
schaffen, die dann hinwiederum der sekundären
Bearbeitung, gleichzeitig aber auch der Abwehr
unterliegen und auf diese Weise verändert
werden. Es entstehen Figuren, als Projektionen
und Partial-Ichs, Handlungsmuster, Symbolkomplexe,
Motive, Szenen, mehr oder weniger assoziativ
verknüpft. Im Verlauf der weiteren Kunst-Arbeit,
die nun wesentlich (vor-)bewußter gesteuert
ist, entsteht ein Gebilde, das Widerspruchsfreiheit,
Transparenz, Ordnung gewinnt, Gestaltqualitäten
annimmt und kommunikativen Strategien unterworfen
wird.
Wie schon gesagt, ist dieser Prozeß mehrfach
rückgekoppelt. Ein Thema entfaltet und
gestaltet sich, indem immer wieder neu unbewußte
Impulse auf Anerkennung drängen, Abwehrmechanismen
den Phantasien neue Formen geben, eine auto-
wie alloplastische Anpassung an tradierte Muster
stattfindet, normative wie kommunikative Anforderungen
des literarischen Lebens wie der historischen
Situation berücksichtigt werden. Die so
entstehende Form kann spielerisch verändert
werden, damit ihre Muster nicht zu eingängig
bleiben, damit neue Assoziationen sich ergeben,
also ein weiterer Rückkopplungsprozeß
angestoßen wird. Die Variationen, Verzerrungen
und Neukombinationen führen zu einer zunehmend
polyvalenten Vielfalt der Bedeutungen, in der
der Autor, selbst zum Leser des von ihm Geschriebenen
geworden, neue Erkenntnisse und Einsichten über
sich gewinnt und im lustvollen Erleben der eigenen
explorativen Fähigkeiten, der ICH-Funktionen,
narzißtischen Gewinn einfährt. Er
erreicht soviel Sicherheit, daß er sich
auf neue Abenteuer einlassen kann, das heißt:
Die Sicherheit, die ihm die gelungene Form bietet,
induziert das Wagnis weiterer Erkundungen seelischer
Abgründe. Mit Wellershoffs Worten wird
der "Ego-Trip" zum "Erkenntnisglück".
Das formale Beherrschen der Phantasien gibt
dem ICH zusätzliche Stabilität und
Funktionstüchtigkeit und erzielt einen
therapeutische Effekt, der zur "Heilung
des Selbst" beitragen kann.
Am Ende dieses Prozesses steht dann das Werk
als kommunikative Brücke.
Zu fragen ist, woher der Autor die Ausdrucksformen
nimmt, die letztlich die Kompromißbildung
der Werkgestalt ausmachen.
Zum einen sind hier die schon angesprochenen
Operationen der Traumarbeit in Kombination mit
diversen Abwehrmechanismen zu nennen. Sie steuern
die Transformationsprozesse zwischen der Tiefenstruktur
im Autor und der Oberflächenstruktur des
Werks und sind der Werkform häufig nur
noch indirekt zu entnehmen. Wird ein Wunsch,
z.B. der nach sexueller Vereinigung, abgewehrt,
erscheint er im Werk entweder gar nicht und
wird übertüncht durch Ersatzhandlungen
(z.B. kriegerisch-heldischer Art), oder er wird
nur durch die berühmten drei Pünktchen
angedeutet (also durch eine akzentuierte Leerstelle
ausgespart und gleichzeitig evoziert) oder mit
Hilfe reichlicher Metaphorik verunklart.
Möglich ist aber auch, daß Abwehrmechanismen
direkt in der Oberflächenstruktur eines
Werks sich niederschlagen. Dies kann zum Beispiel
mit der Verneinung geschehen, die selbst schon
eine Kompromißbildung ist, wie Freud gezeigt
hat. Aber auch durch die der Verneinung verwandte
Verurteilung oder auch durch Formen der Intellektualisierung.
Frischs "Stiller" z.B. zeigt alle
drei Mechanismen als formale Organisatoren des
Romans; vor allem die Verneinung ist in dem
Roman die grundlegende Bedingung der Möglichkeit,
Selbstflucht und Selbstsuche zu thematisieren
("Ich bin nicht Stiller!"), also das
Thema "Identität" darzustellen
und damit einer gelungenen formalen Lösung
zuzuführen.
Die "Traumarbeit", die über weite
Strecken unbewußt verläuft, schafft
nur einen Teil der Ausdrucksformen eines literarischen
Werks. Hinzu kommt all das, was noch viel zu
grob unter den Stichwort "Sekundärprozeß"
und "Kunstarbeit" zusammengefaßt
wurde. Da sind zu nennen die Gestaltgesetze,
die Bedingungen der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung,
also die Grundbedingungen einer möglichst
adäquaten Übermittlung bewußter
wie unbewußter Botschaften. Diese Grundbedingungen,
auf die ich noch genauer unter dem Stichwort
Rezeption eingehen werde, können als kognitive
Konstanten angesehen werden, die mit der mentalen
Ausstattung von homo zusammenhängen. Sie
sind die Grundlage einer auf Kommunikation angelegten
Produktion von Phantasien und einer entsprechenden
Rezeption und in diesem Sinne transpsychoanalytisch.
Sie werden aber psychoanalytisch interessant
in ihrer je spezifischen Verwendung, vor allem
dann, wenn gegen bestimmte Regeln verstoßen
wird, wenn also zum Beispiel die Grenzen der
Informationsverarbeitung überschritten,
hyperkomplexe Strukturen hergestellt werden
oder gegen den Grundsatz der Prägnanz verstoßen
wird. Da formale Konstanten in einem literarischen
Werk nicht meßbar sind, ist es eine Frage
der Interpretation, ob die immer notwendige
Raffung einer Information zum Beispiel als psychoanalytisch
relevant angesehen wird und damit als abwehrbedingte
Kompromißbildung oder als "bloß"
informationstheoretisch bedingte Ökonomie
des Ausdrucks.
Die Antworten auf die Frage nach den Ausdrucksformen
werden faßbarer in dem Bereich, den ich
jetzt ansprechen möchte. Wie jeder weiß,
schöpft kein Künstler seine Produkte
aus einem geschichts- und gesellschaftslosen
Raum, und kein Künstler fängt bei
null an. Jeder Autor ist in seinen Wahrnehmungen
und Einstellungen, seinem Selbst- und Weltbild
geprägt von seinen frühen Lektüren,
ihren semantischen wie strukturellen Substraten.
Jeder Autor definiert außerdem seine Rolle
in einer Gesellschaft, damit natürlich
auch im historischen Rahmen dieser Gesellschaft,
und er phantasiert für sein Werk eine spezifische
soziale Funktion. Peter von Matt hat das hier
Angedeutete unter dem Begriff der Opus-Phantasie
zusammengefaßt. Ich möchte versuchen,
seine Gedanken weiterzuentwickeln und zu systematisieren.
Ich würde unterscheiden zwischen den formalen
Einflüssen, die sich aufgrund früher
Lektüre, aufgrund von Nachahmung und kreativer
Variation tradierter literarischer Muster und
Formen gebildet haben, und den "Einflüssen",
die aufgrund der "Opus-Phantasie"
im engeren Sinne entstehen, also der Phantasie
des entstehenden oder noch zu schaffenden Werks
und seiner Funktion im Rahmen eines literarischen,
sozialen und historischen Kommunikationsgefüges.
Die Opus-Phantasie im engeren Sinn kreist um
Fragen wie: Möchte ich mit meinem Werk
die Bourgeosie vor den Kopf stoßen? Möchte
ich Krieger preisen, auf daß sie tapfrer
sterben? Möchte ich die traditionellen
Formbegrenzungen der Gattung sprengen oder in
noch nie dagewesene unbewußte Bereiche
vorstoßen, gleichgültig, wie die
Leser reagieren? Möchte ich einen gut verkäuflichen
Roman schreiben oder Bekümmerten Trost
zusprechen?
Ich ziehe es vor, in Bezug auf den erstgenannten
Aspekt von "literarischer Anpassung"
zu sprechen und den Begriff "Opus-Phantasie"
für den zweiten Aspekt zu verwenden.
Die literarische Anpassung an Vorbilder und
die Aufnahme formaler Muster aus der Tradition
ist sicher der Bereich, den die Autoren am meisten
in ihren poetologischen Überlegungen reflektieren
und dem auch die Literaturwissenschaft am ehesten
noch Aufmerksamkeit schenkt. Die "geistigen
Wurzeln" eines Autors und seines Werks
betreffen immer auch die Gestalt seiner Produkte,
und in den Gattungsregeln haben sich Ausdrucksformen
verfestigt und sind tradierbar, wenn nicht gar
lehrbar geworden.
Das literarische Handwerk, das ein Autor braucht,
der ihm zur Verfügung stehende poetische
Code, ist objektpsychologisch vermittelt und
dementsprechend zu betrachten. Ich glaube, daß
gerade in diesem Bereich noch intensiv geforscht
werden muß. Die folgenden Überlegungen
sind also eher Vermutungen.
Die Übernahme formaler Muster ist im Zusammenhang
der Triangulierungsprozesse zu verstehen, und
zwar auf mehreren Stufen. Das "Handwerk"
des Vaters, sein Umgang mit den "Objekten"
der Realität, mag durch identifikatorische
und introjektive Prozesse dem Kind vermittelt
worden sein. Dies kann ganz konkret gemeint
sein: Ein Vater schreibt, ein anderer ist Architekt.
Hinzu kommt die Einstellung des Vaters zu den
kreativen Bedürfnissen des Kindes, natürlich
auch die der Mutter, überhaupt das familiäre
Klima. Eine liebevolle Aufmerksamkeit der Umwelt
gegenüber wird den Blick des Kindes auf
eine andere Weise formen als abgrundtiefer Haß
und Verachtung. Eine weitgehend rückwärtsgerichtete
Haltung wird auch den späteren Autor eher
zurückschauen und ihn retrospektive und
analytische Techniken bevorzugen lassen.
Hinzu kommen protoliterarische Einflüsse,
die traditionellerweise eher mit der Mutter
verbunden sind: Einflüsse durch Lieder,
Märchen und Geschichten. Schon früh
lassen sich bei Kinder ganz deutliche Vorlieben
erkennen, Märchen zum Beispiel, in dem
sich das Kind wiedererkennt und die es häufig
(fast) auswendig kann. Semantischer Kern, affektive
Tönung, kompositorische Elemente und vor
allem auch die Symbol- und Sprachgestalt dieser
früh rezipierten und von einer geliebten
Person vermittelten Literatur dürften nachhaltig
den späteren "Dichter" beeinflussen.
Eine differenziertere "Triangulierung"
dürfte dann vor allem während der
Adoleszenz stattfinden. Während dieser
Zeit kommt es noch einmal zu einer vertiefenden
und konkreteren Auseinandersetzung mit dem Vater
und der väterlichen Welt, und gleichzeitig
zu einem intensiven Kontakt mit der Literatur.
Es beginnen väterliche Förderer und
Lehrer eine Rolle zu spielen, Schriftsteller
entwickeln sich zu Idealvätern, denen nachzueifern
ganz offensichtlich ungeahnte Kräfte freizusetzen
vermag.
Der hier geschilderte Vorgang mag unter Umständen,
während einer sensiblen Phase, sogar eine
Prägekraft haben, die sich in ihrer Stärke
der "Prägung" nähert, die
die Verhaltensforschung beschrieben hat. Ein
"väterliches Buch" wird einverleibt,
immer wieder gelesen, weil es zum einen in der
Lage ist, einen bild-, genauer symbolhaften
Ausdruck der zentralen Konflikte zu repräsentieren,
zum anderen, weil es eine Lösung(smöglichkeit)
dieser Konflikte aufzeigt, weil es also regressiv
wie progressiv ist und zum Leitfaden werden
kann zu literarischer Analyse wie "therapeutischer"
Lösung im formalen Gewand.
Die Einverleibung literarischer Muster und Formen
während der Adoleszenz hat aber auch eine
ganz konkrete Seite: Sie stellt das Handwerk
bereit, das der künftige Autor braucht,
um sich auszudrücken, sie gibt dem ICH
die Mittel, die es befähigt, mit den bedrängenden
Phantasien und Affekten umzugehen. Es gibt ihm
die Sicherheit einer stabilisierenden Form und
dadurch die Möglichkeit zu Spiel und Exploration,
schließlich die Fähigkeit, kommunikable
Lösungen zu finden - denn die literarische
Tradition stellt den Fundus dar, aus dem sich
der Erwartungshorizont der Leser speist.
Die eigentliche Opus-Phantasie im Sinne einer
Meta-Phantasie der Werkgestalt und seiner Funktion
im literarischen Leben wie im Prozeß der
Gesamtgesellschaft ist weniger mit der Vergangenheit
verknüpft als auf die Gegenwart und Zukunft
hin entworfen. Sie definiert das Selbst-Produkt
im Rahmen des literarischen und sozialen Umfeldes,
ist insofern Ausdruck eines autonomen Selbst
in Auseinandersetzung mit der ihm auferlegten
Normierung. Die Opus-Phantasie als vorweggenommene
Phantasie des fertigen Produkts ist daher auch
Appell an den Leser, Antwort auf seine Erwartungen.
In ihr ist die produktive Verarbeitung der ästhetischen
wie sozialen Regeln eingefangen, das heißt,
in ihr sind dem Autor auch die Grenzen deutlich,
die seiner kreativen Expansion gesteckt sind.
In ihr ist auf den interpersonellen Konflikt
zwischen Individuum und Gesellschaft und dem
entsprechenden intrapersonellen Konflikt zwischen
ES und ÜBER-ICH eine jeweils spezifische
Antwort aufgehoben. Der Autor hat sich in Abgrenzung
von der Gesellschaft und in Behauptung seiner
Individualität eine Selektions-, Variations-
und Mutationsinstanz geschaffen, eine produktive
Methode, mit der er seine Phantasien auswählt,
filtert und einem gestalterischen Rahmen zuordnet,
der auch wieder eine Form von Kompromißbildung
darstellt.
Mit dem Konstrukt der Opus-Phantasie ist ein
zentraler Aspekt meiner Überlegungen direkt
angeschnitten: der kommunikative. Wie schon
deutlich geworden ist, appelliert das Werk,
auf bewußter wie unbewußter Schiene,
an den Leser und ist von daher Ausdruck von
Übertragungen wie Auslöser von Gegenübertragungen.
Elemente der literarischen Form nun vermitteln
und steuern die kommunikativen Akte.
Dabei lassen sich meines Erachtens vor allem
drei unterscheiden:
I) die Mechanismen von Übertragung und
Gegenübertragung im engeren Sinn;
II) die Affekt- und
III) die Wahrnehmungssteuerung.
Zu I) Hier sind folgende Möglichkeiten
zu unterscheiden:
a) Die Übertragung Autor ® Figur und
die Gegenübertragungsreaktion Leser ®
Figur. Dabei spielen projektive und identifikatorische
Operationen eine Rolle: Die Figurenwelt eines
Autors spiegelt seine Objektbeziehungen, und
häufig ist der Protagonist ein Selbst-Objekt,
ein Wunsch-Ich zum Beispiel, eine abgeschobene
Möglichkeit usw. Der Leser antwortet auf
diese Figurenkonstellation mit einem affektiven
Response, der sich aus der Geschichte seiner
Objektbeziehungen herleitet. Häufig erkennt
sich der Leser in einer Figur wieder, genauer:
in einer spezifischen Darstellungsform dieser
Figur, und dies ist einer der Gründe, weswegen
er sich auf die fiktive Welt des Werks einläßt.
b) Die Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung
über den Erzähler. Der Erzähler
ist ein entscheidender formaler Organisator
des Werks; entscheidend deswegen, weil die Art
seiner Wahl automatisch bestimmte formale Entscheidungen
nach sich zieht. So induziert er z.B. eine bestimmte
Stillage, und diese impliziert eine spezifische
Definition des kommunikativen Verhältnisses:
Der Leser kann sich belehrt fühlen, ernst
genommen, verwirrt, überredet usw. Spart
sich der Autor dagegen als Erzähler aus,
d.h. versucht er sich zur Nullstelle zu machen,
braucht er Leser, die sich auf diese Optik einlassen
können, die also mit einer meist scheinbaren
Objektivität des Erzählten umgehen
können. Im traditionellen Roman ist es
so, daß ein Erzähler eine meist überlegene,
wissende Rolle einnimmt und einen Leser braucht,
der bereit ist, sich der Autorität freiwillig
zu beugen. Hier ist ein breites Spektrum von
Möglichkeiten an der epischen Literatur
zu studieren. In der Dramatik fällt der
Erzähler-Mediator meist weg. Dafür
interpretieren und konkretisieren Regisseur
und Schauspieler den Text. In der Lyrik tritt
ein "lyrisches Ich" auf, das häufig,
vor allem bei Erlebnislyrik und bei "naiveren"
Lesern, mit dem Autor gleichgesetzt wird.
Zu II) Eng verbunden mit den Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehungen
ist das, was ich Affektsteuerung nenne. Ein
Autor muß die "Inhalte" seines
Werks so strukturieren, daß sie den Leser
fesseln, Spannung und Neugier erzeugen. In der
Regel geschieht dies über die Handlungsstruktur,
über eine spezifische Art, Informationen
zurückzuhalten und zu geben, Elemente einzufügen,
die den Leser affektiv berühren. Dem Autor
muß es gelingen, im Leser eine affektive
Spannung im Sinne des "Aktivierungszirkels"
(Heckhausen) aufzubauen.
Die richtige Affektsteuerung ist eine der zentralen
Aufgaben, vor die sich der Autor bei der Gestaltung
seiner Werkphantasien gestellt sieht: Denn wenn
ihm dies nicht gelingt, wird der Leser das Werk
gelangweilt weglegen, die Kommunikation also
verweigern.
Zu III) Ebenfalls nur schwer zu trennen von
dem bisher Herausgearbeiteten ist die Steuerung
der Wahrnehmung, sind die kognitiven Strategien,
denen der Autor seine Phantasien unterwerfen
muß, damit seine Informationen als "sinnvolle"
akzeptiert werden. Hierzu gehören die narrativen
Strategien im engeren Sinne, die Darstellungsmodi
(Aufbau von Szenen, Dialogführung, Beschreibung,
Kommentierung usw.), die Art der Visualisierung,
die adäquate Mischung von Komplexität
und Ordnung, die Möglichkeit zur Superzeichenbildung,
Transparenz, Kohärenz usw. Hierzu gehört
aber auch der "Vertrag mit dem Leser"
zu Beginn eines Werks, d.h. der Einstieg in
die fiktionale Welt, der dem Leser etwas verspricht,
was das Werk dann einlösen muß. Hierzu
gehört, aus psychoanalytischer Sicht von
besonderem Interesse, die Strategie der abgelenkten
Aufmerksamkeit (Freud 1942); sie dient dem Spannungsaufbau
und gleichzeitig einer Vorprogrammierung, sie
ist aber auch ein herausragendes Mittel der
Kompromißbildung: Durch sie kann der Autor
etwas Verbotenes aussprechen und gleichzeitig
verstecken, so daß es nicht mit vollem
Bewußtsein wahrgenommen zu werden braucht.
Ein scheinbar werkfremder Gesichtspunkt ist
bisher nur angeschnitten worden, sollte aber
genannt werden. Die Kommunikation in der Triade
Autor-Werk-Leser verläuft in aller Regel
zusätzlich vermittelt und ist auf diese
Weise direkt in einen gesellschaftlichen Rahmen
eingebettet.
Bevor ein Werk auf den Markt kommt, geht es
durch die Hände von Lektoren und Verlegern;
bevor ein Werk gelesen wird, erhält der
Leser meist Vorinformationen über Kritiker,
Freunde, Lehrer usw. Das bedeutet: Die Form
eines Werks ist häufig mitgeprägt
von einem Erstleser, Lektor und Verleger bzw.
von der Beziehung zwischen dem Autor und den
genannten Personen. Der Verleger kann ein förderndes
Vatersubstitut sein, kann aber auch "kastrierend"
eingreifen. Ein Autor kann sich - z.B. nach
dem Muster der "Schere im Kopf" -
anpassen, kann protestieren, sich abwenden.
Wie ein Werk rezipiert wird, welche Elemente
wahrgenommen werden, hängt häufig
von der Vorinformation und Aufmerksamkeitslenkung
durch Lehrer oder Kritiker ab. Auch in diesem
Fall ist die Kommunikation vermittelt, hängt
die Struktur der Vermittlung zwischen Autor
und Leser nicht nur vom Werk ab, sondern von
"äußeren" Faktoren.
Die literarischen Vermittler, seien es Verleger,
Lektoren, Kritiker oder Mäzene, machen
den literarischen Kommunikationsprozeß
komplizierter, weil sie vom Autor und Leser
als Verkörperungen von ÜBER-ICH-Instanzen
Anpassungsprozesse erzwingen und damit, nach
ihrer eigenen Psychodynamik, die literarische
Form "fremdbestimmen".
Hinzu kommt, daß sich literarische Form
nur im institutionellen Rahmen verwirklichen
kann: Ein Drama braucht ein Theater, um adäquat
wahrgenommen zu werden, zumindest eine Bühne.
Eine Geschichte, die veröffentlicht werden
soll, braucht ein Medium, z.B. eine Zeitschrift.
Gibt es viele Zeitschriften, die gerne Short
Stories publizieren, kleiden viele Autoren ihre
Phantasien in die Form von Short Stories, und
umgekehrt. Oder: Die Genitivmetapher wird als
beliebtes lyrisches Ausdrucksmittel verwandt;
zwanzig Jahre später erscheint sie als
obsolet, und jeder Lektor rümpft die Nase,
stößt er auf sie. Oder: Lektoren
und Kritiker als professionelle Vielleser gieren
nach formalen Lösungen, die sie als neuartig
empfinden und die an ihre Lust am "intertextuellen
Dialogismus" (Eco 1988) appellieren, während
Verleger lieber auf die (marktstrategische)
Sicherheit bewährter formaler Muster setzen.
Kurz: der institutionelle Rahmen des literarischen
Lebens, epochale Stimmungen, Moden, Stile erfordern
die "handwerkliche" Auseinandersetzung
des Autors, prägen vor allem die Opus-Phantasie,
die dann selektierend nur bestimmte Muster aus
dem Reservoir poetischer Ausdrucksmittel herausfiltert.
5. Rezeption
Die Rezeption eines Werks verläuft im Prinzip
reziprok zur Produktion, natürlich verkürzt
und eher reaktiv. Die Anstöße zum
Ausphantasieren der auf eine spezifische Weise
kodierten Informationen liefert der Autor durch
die Werkform. Sie setzt in dem Leser einen Transformationsprozeß
in Gang, der die Informationen der Oberflächenstruktur
nach den Strukturmustern von Abwehr und Anpassung
dekodiert und in eine psychische Tiefenstruktur
umformt. An dieser Stelle wird eine entscheidende
Bedingung für die adäquate Gegenübertragung
deutlich: die individuellen Muster von Abwehr
und Anpassung (z.B. die Taktiken des Verschweigens,
Leugnens, der Selbstverurteilung, des Eskapismus,
der Intellektualisierung und Ironie), von Norman
Holland "identity theme" genannt,
müssen weitgehend synchron sein bzw. sich
komplementär ergänzen. Auf diese Weise
kann der Leser auch die unbewußten Botschaften
richtig entziffern; er kennt nämlich den
Code ihrer Verschlüsselung. All dies ist
ihm nicht bewußt. Es kann sogar geschehen,
daß er ein Werk unbewußt richtig
versteht, obwohl er es in seiner bewußten
Rezeption und rationalen Interpretation nur
unzutreffend entschlüsselt.
Zu diesem Transformationsprozeß gehört
auch das Wiedererkennen des zentralen Konflikts
bzw. Traumas als des (geheimen) thematischen
Kerns eines Werks, auf den die Phantasien hin
organisiert sind. Eine positive Gegenübertragung
dürfte zumindest eine Verwandtschaft der
zentralen Konflikte bei Autor und Leser voraussetzen.
Denn, und das ist eine landläufige, jedem
Leser bekannte Trivialität: Wir lesen,
was uns betrifft und daher betroffen macht.
Was über das zentrale Thema gesagt wurde,
gilt auch mutatis mutandis für die Reaktion
auf die jeweiligen Figuren eines literarischen
Werks: In ihnen erkennt man sich selbst und
abgespaltene Teile des Ichs wieder, und die
Strukturen des "Familienromans" (Freud)
spiegeln den eigenen "Familienroman".
Auch hier spielen, wie auf der Autorseite, die
Prozesse projektiver Identifikation eine Rolle.
Bei der Kommunikation zwischen Autor und Leser
via Werk kann der Leser in der Regel dem Autor
nicht direkt antworten. Dies ist wenigstens
heute unter den Bedingungen des anonymen Marktes
der Fall. Die Märchenerzähler, die
ihrem Publikum noch direkt ins Auge schauen
konnten, sind in unseren Breiten ausgestorben,
und auch den Troubadour, der vor seiner Angebeteten
kunstvoll schmachtet, gibt es kaum noch. Die
heutigen Mäzene, Preisverleiher z.B., wirken
meist anonym oder bleiben als Organisationen
undurchschaubar. Überall drängen Vermittler
sich in den Kommunikationsprozeß und/oder
werden aufgrund der zunehmenden Komplexität
des literarischen Lebens und seiner sozioökonomischen
Bedingungen gebraucht. Dabei entsteht ein häufig
undurchschaubar gewordenes kommunikatives Geflecht,
in dem Erwartungshaltungen von Lesern und Vermittlern,
angebliche oder wirkliche "Akzeptanz",
Fragen der ökonomischen Verwertbarkeit,
Modeströmungen, Nepotismus, Kritikereitelkeit
und Autorenkonkurrenz auf die kommunikative
Intention des Autors einwirken und seine Opus-Phantasie
bestimmen. Je mehr ein Autor veröffentlicht
hat, je mehr spezifische Erwartungen an ihn
gestellt werden, desto mehr komplizieren sich
die Prozesse von Übertragung und Gegenübertragung.
Der Autor reagiert auf die Reaktion des Lesers,
und umgekehrt erwartet der Leser bestimmte Reaktionen
des Autors. Auswirkungen auf die jeweilige formale
Gestalt der Werke liegen auf der Hand: Die Leser
haben sich an einen saloppen Stil gewöhnt,
und der Autor bedient sie weiterhin damit, oder
er fängt an, altmeisterlich zu schreiben,
weil er eine Festlegung nicht vertragen kann.
Die Leser reagieren entweder irritiert oder,
variatio delectat, angenehm überrascht.
Ein Autor hat ein Thema in verschiedenen Figur-
und Handlungsmustern ausgeschrieben und dabei
ein Symbolarsenal entwickelt, das seinen Lesern
inzwischen bekannt ist - wie die Kritiker unüberhörbar
verkünden. Also wird er zunehmend versuchen,
nur noch anzudeuten, mit Leerstellen zu arbeiten,
Bilder zu evozieren, statt sie zu beschreiben.
Möglich ist auch, daß neue Moden
kreiert oder Themen wie Stile plötzlich
démodé werden: Das Publikum richtet
sich nach diesem häufig kaum faßbaren
Epochen-ÜBER-ICH, und der Autor findet
sich im Abseits; oder umgekehrt: der Autor erkennt
frühzeitig die Zeichen der Zeit und trifft
mit seinem Werk genau den (Abwehr-)Nerv der
Modeströmung. Für eine Zeitlang stimmen
individuelles wie kollektives "identity
theme" überein und vor allem auch:
die formalen Strategien, mit denen es erfolgreich
ausgedrückt werden kann.
Daß ein Werk so kodiert werden muß,
daß es unsere Neugier weckt, uns auf meist
wenig durchsichtige Weise fasziniert, uns in
Spannung hält, uns Rätsel aufgibt,
habe ich schon ausgeführt.
Nun betrifft diese Affektsteuerung nicht nur
die wahrnehmbare Oberfläche des Lektüreaktes.
Häufig laufen hier Prozesse bewußter
und unbewußter Art gegeneinander, wie
die immer wieder beobachtete Affektumkehr bei
dem Genuß trauriger und unangenehmer Themen
zeigt. ES-Impulse können genossen werden,
und gleichzeitig kann man dem ÜBER-ICH
Gehorsam leisten, und das ganze in ökomomisch
optimaler Mischung. Der Held darf töten,
muß aber bestraft werden, die Heldin darf
sündigen, muß aber büßen,
und wir als Leser genießen beides. Dabei
sind mehrere formale Varianten möglich:
Wir können Verbrechen und Bestrafung als
Bestandteile der Handlungsstruktur und damit
nacheinander erleben, aber auch gleichzeitig,
nämlich dann, wenn die Handlung von dem
Darstellungsmodus konterkariert wird, z.B. durch
abwertende und moralisierende Kommentare, durch
negative Zeichnung der Akteure.
Der Genuß kann auch von daher stammen,
und darauf zielt wohl die aristotelische Katharsistheorie,
daß der Zuschauer sich durch Stellvertreterfiguren
zu starker Erregung von "Furcht und Mitleid",
"Jammer und Schauder" hinreißen
läßt, um in der Sicherheit der Fiktionalität
sich - fiktiv - "abzureagieren": Er
braucht seinen Mordgelüsten nicht mehr
nachzugeben und auch keine Strafe mehr zu erwarten,
er kann ihnen, "gereinigt" von Schuld
und Scham, in Zukunft eine Abfuhr erteilen.
Voraussetzung dafür, daß eine kommunikative
(Tiefen-)Beziehung zwischen Autor und Leser
entstehen kann, ist nicht nur eine Strategie
emotionaler Appelle, sondern ist auch eine optimale
"Gestalt" des Werks. Die Gestaltgesetze
und Mechanismen der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung
sind vor allem im visuellen Bereich erforscht
worden; ich bin aber sicher, daß sie sich
auch auf den literarischen übertragen lassen.
Wie im einzelnen, bedarf noch intensiver Forschung.
Andeutungen müssen daher genügen.
Die Form eines literarischen Werks, dessen Botschaft
eine breite Leserschaft nachhaltig erreichen
soll, muß sich diesen universal gültigen
Rezeptionsvoraussetzungen anpassen. Dazu gehören
die Gestaltgesetze, z.B. das entscheidende von
Figur und Grund, das Gesetz der Erfahrung, der
Prägnanz, dazu gehört eine deutliche
Konturierung, die ökonomische Verwendung
der Mittel und der Anschein sinnlichen Reichtums,
ein Ausgleich von Ordnung und Komplexität,
Transparenz und Geheimnis, die Möglichkeit
zur Superzeichenbildung und damit Informationsreduktion,
eine adäquate Aufmerksamkeitslenkung usw.,
also all das, was ich bereits unter dem Stichwort
der kognitiven Organisation angesprochen habe.
Auf diese Weise entsteht eine "gute",
wenn nicht gar eine "vollkommene Form",
beim Leser faßbar als Gefühl, daß
alles stimmt, alles seinen Platz hat, nichts
fehlen darf, aber auch nichts überflüssig
ist, faßbar als selbstevidente Gewißheit,
die Sicherheit verspricht, und gleichzeitig
als durchscheinendes Geheimnis, das immer wieder
neugierig macht und bei jedem neuen Lektüreakt
zusätzliche Erkenntnisse bringt. Diese
Aussage gilt sowohl individuell für einen
einzelnen Leser wie für das Kollektiv von
Lesern aus unterschiedlichen Epochen. Das Kunstwerk
erzeugt prinzipiell immer wieder neue Lesarten
und verbraucht sich dabei nicht selbst, um mit
Eco zu sprechen. Im Leser, wie schon im Autor,
entsteht das Gefühl einer souveränen
ICH-Synthese, und dieses Gefühl läßt
ihn eine stabile Lösung erleben, in der
das Spiel der einzelnen psychischen Instanzen
mit sich und mit der Realität zu einem
homöostatischen Gleichgewicht gekommen
ist. Das Verschmelzen des Lesers mit dem Werk
dürfte wie eine benigne Regression in sehr
frühe Erlebnisbereiche wirken, und die
Einverleibung der formalen Bemeisterung ichstabilisierend.
Wie schon der produktive Akt, so tendiert auch
der rezeptive Akt dahin, zu einer "Heilung
des Selbst" beizutragen, indem er, wie
auch die Psychoanalyse, zu einer Befreiung des
"eingeklemmten Affekts" (Freud) verhilft,
die Abwehr durchlässiger macht und gleichzeitig
das ICH-System stärkt, indem er, in der
Sicherheit einer gegebenen Form, Abenteuer der
Selbstkonfrontation ermöglicht und die
Regression in eine Progression einmünden
läßt.
6.
Form-Elemente des Werks
Form-Elemente
des Werks genauer zu bestimmen ist schwierig,
weil sie abhängig sind von dem interpretatorischen
Zugriff, d.h. von der Methode und der Kategorisierung
des Interpreten. Man kann die Handlung eines
Romans als "Inhalt" betrachten, gleichzeitig
aber, in abstrahierender, wiederholbarer Verkürzung,
als Handlungsstruktur. Ähnliches läßt
sich von der Motivik sagen. Sobald man Motive
als geronnene und tradierte Handlungseinheiten,
Bild- und Sprachmuster betrachtet, sind sie
Teil des formalen Gefüges. Nicht anders
die Typen einer Figurenkonstellation.
Ich
möchte zum Schluß meiner Untersuchung
versuchen, wichtige Formaspekte des literarischen
Werks zu isolieren und in einen Zusammenhang
zu stellen. Dabei handelt es sich um den Aspekt
a)
der Einheit,
b)
der Komposition,
c)
der Anlage eines Werks,
d)
der Symbolisierung und
e)
der Sprache.
Zu
a) Die hochabstrakte und sehr allgemeine Formkategorie
"Einheit" oder gar "Vollkommenheit"
eines Kunstwerks stellt ein Postulat dar, das
nie gültig nachgewiesen werden kann. Natürlich
lassen sich harmonische Ausgewogenheit, Ökonomie
der Mittel usw. aufzeigen, aber bei dem wenig
präzisen Instrumentarium der Literaturwissenschaft
und der allgegenwärtigen Wirksamkeit des
hermeneutischen Zirkels überzeugen solche
Untersuchungen nur die, die ohnehin schon überzeugt
sind. "Vollkommenheit" impliziert
ein Werturteil und eine ganzheitliche Erfassung
des Gegenstands: Sie kann sich nur erweisen
in seiner "Geschichtsresistenz" (Schönau
1985), in der "Objektivität"
vieler "subjektiver" Urteile, in der
Tatsache, daß ein Kunstwerk immer neue
Lesarten generiert und über lange Zeit
hin immer wieder Menschen neu anzusprechen in
der Lage ist.
Wir
müßten uns nicht mit diesem vagen
Formbegriff beschäftigen, wäre er
nicht als Zielgröße für den
Autor und als Ideal für den Leser so wichtig.
In der Verkörperung des ICH-IDEALS in einem
Kunstwerk sehen wir offensichtlich einen sehr
hohen Wert, der uns magisch anzieht, vielleicht,
weil wir uns selbst auf diese Weise, wenn auch
nur kurzfristig und nur im "schönen
Schein", als vollkommen erleben können,
weil wir, die wir vom Zerfall bedroht sind,
der Fragmentierung entgegenarbeiten, indem wir
ein Abbild der Einheit introjizieren. Auch psychogenetisch
stellt das ICH-IDEAL, in der Kombination mit
dem Größen-Selbst, eine wenn auch
illusionäre Form dar, sich autonom, unabhängig
und sicher zu fühlen. Hinzu kommt, daß
dem Vollkommenen noch die Erinnerungsspuren
frühester Einheitserlebnisse anhaften,
die die Paradiesphase nach und womöglich
vor der Geburt heraufzubeschwören vermögen.
Zu
b) Am ehesten können wir "Einheit"
und "Vollkommenheit" noch im Bereich
der Komposition, der "Tektonik" und
"Architektur" eines Kunstwerks beschreiben.
Der Aspekt der Komposition umfaßt die
Anordnung auch "äußerlich"
in der Signifikantenstruktur leicht zu isolierender
Werkelemente, also z.B. die Abfolge von Darstellungseinheiten
wie Szenen oder Kapitel, Sequenzen, Absätze;
außerdem die gewissermaßen geometrisch
und/oder musikalisch beschreibbare Struktur
von Elementen, die nach dem Muster von Symmetrie,
Wiederholung, Kontrast, Proportion, Umkehrung,
Spiegelbild, Amplifikation, Raffung und Dehnung
sich fügen. Diese Kategorien können
sich auf die Handlungs- wie auf die Figurenstruktur
beziehen, aber auch auf die Sprachgestalt, im
Grunde auf alle zu isolierenden Werkelemente.
Darüber hinaus meint Komposition eine durchgängige
Vernetzung von Formelementen meist "kleinerer"
Art, von Leitmotiven, Symbolen, Handlungspartikeln;
diese Vernetzung entsteht durch Wiederholung,
Variation, Anspielung.
Für
Autor wie für Leser erhält der "breiige"
Stoff durch den kompositorischen Zugriff eine
feste Struktur, anders ausgedrückt: Die
Komplexität einer Informationsflut läßt
sich durch den Rezipienten gliedern, wird für
ihn transparent dadurch, daß er "Gestalten"
erkennen und Superzeichen bilden kann. Das Netz
trägt ihn, gibt ihm Sicherheit, und zwar
die Sicherheit, die er braucht, um sich auf
das Abenteuer der Erkundung abgewehrter psychischer
Schichten einzulassen. Gleichzeitig appelliert
das kompositorische Gefüge an die Organisationsfähigkeit
seines ICH, fordert es sogar heraus, neue Strukturen
zu bilden, und kann durch Verkomplizierung und
Verzerrung die Wahrnehmung verzögern und
dadurch eingefahrene Bahnen aufbrechen - eine
Aufgabe, die gerade moderne Kunst für sich
beansprucht.
Das
ichfunktionale Bedürfnis nach Komposition
entsteht aufgrund der kognitiven Anforderung
nach effizienter Verarbeitung: Die Informationsflut
muß Konturen bekommen, sich zu prägnanten
Gestalten fügen und sich nach Superzeichen
unterschiedlichen Grades gliedern lassen. Dieser
Vorgang darf keineswegs mechanisch gesehen werden
oder eindimensional: Die Gestaltqualität
von Figur-Grund-Mustern nach dem Vorbild des
Kippbildes verweist auf einen Mechanismus, der
jedem bedeutenden Kunstwerk inhärent ist,
der gerade die Fähigkeit eines Kunstwerks
ermöglicht, mehrere Lesarten zu erzeugen,
polyvalent zu sein. Die Elemente des Werks sind
so angelegt, daß sie zu unterschiedlichen
Superzeichen geordnet werden können, und
zwar je nach den Bedürfnissen des Rezipienten:
Der eine sieht eine alte Frau, der andere ein
junges Mädchen, der erste liest eine Ehegeschichte,
der zweite ein Kriminalstück, und der dritte
einen Künstlerroman; immer aber gehen sie
von derselben Vorlage aus.
Dem
Aspekt der Komposition sind nicht nur kognitive
Organisationsmuster zugeordnet, sondern auch
das Körperschema bzw. die (unbewußte)
Repräsentanz des Körpers. Faktoren
wie Symmetrie, Spiegelbild, Proportion usw.,
darüber hinaus vor allem rhythmische Bewegungen,
aber auch Vorgänge wie Dehnen und Raffen
verweisen auf Körperschemata und Strukturen
physiologischer Art. Hinzu kommen Erfahrungen
mit der Geborgenheit und Sicherheit, die ein
gesunder Körper verspricht, oder auch Erfahrungen
mit seiner Hinfälligkeit. Je nach der Auseinandersetzung
mit dem (unbewußten) Körperschema
und -zustand wird der Autor seinen Werkkörper
bilden. Nicht zufällig sprechen wir von
der "Gestalt" eines Werks, von dem
langen "Atem" eines Romans, und nicht
zuletzt leitet sich der heute etwas außer
Mode geratene ästhetische Zentralbegriff
"Schönheit" von der "Schönheit"
des menschlichen Körpers ab.
Zu
c) Mit "Einheit" und "Komposition"
ist ein dritter allgemeiner Formaspekt gegeben:
die Anlage eines Werks, die meist mit der Perspektivik,
dem Erzähler und der narrativen Strategie
verbunden ist. Was ich mit "Anlage eines
Werks" meine, läßt sich an den
folgenden Fragen beispielhaft konkretisieren:
Erzähle ich analytisch-retrospektiv oder
chronologisch-zielgerichtet? Suche ich aus Fragmenten
ein "Kreuzworträtsel" oder ein
Mosaik zu machen? Lasse ich durch mich als Organisator
der "unwillkürlichen Erinnerung"
(Proust) einen Strom von Erinnerungen, Assoziationen
und Reflexionen breit dahinfließen? Die
Anlage eines Werks meint den methodischen Zugriff
auf eine fiktional darzustellende Welt und bildet
sich aus der Verrechnung von zentralem Thema,
inkorporierten Erzählstrategien und Opus-Phantasie.
Häufig
wird sie - ich denke da insbesondere an Romane
wie den "Stiller" - schon zu Beginn,
zuweilen sogar im ersten Satz deutlich oder
erahnbar. In der Eröffnung einer Partie
zwischen Autor und Leser auf dem Spielbrett
des Werks ist zum einen die Spiel- und Kommunikationsstrategie
ablesbar, zum anderen der "Inhalt"
in symbolischer Verdichtung eingefangen. Hier
liegt eine Analogie zum "ersten Eindruck"
in der zwischenmenschlichen Kommunikation, der
von prägender Bedeutung und nur schwer
zu korrigieren ist, und zur psychoanalytischen
Therapie, die ja auch die erste Stunde, den
Initialtraum, den Sprechbeginn betont. Offensichtlich
sind wir in der Lage, eine Grenzüberschreitung,
den Eintritt in einen neuen Raum kommunikativ
so zu verdichten, daß er unsere Absichten,
auch wenn wir sie verbergen wollen, unbewußt
deutlich macht; und offensichtlich sind wir
auch in der Lage, adäquat zu reagieren.
Zu
d) Die Symbolisierung, d.h. die Verwendung eines
polyvalenten Systems von Zeichen, das immer
wieder neue Bedeutungsnuancen zu generieren
in der Lage ist, gibt aber nicht nur dem Autor
ein subjektiv gültiges wie objektivierbares
Mittel in die Hand, seine Vorstellungs- und
Affektwelt widerspruchsfrei zu halten; sie ist
auch gleichzeitig fähig, dem Leser affektgeladene
und erfahrungsgetränkte Bilder zu übermitteln,
die ihm Lösungen und Deutungen anbieten,
ihn aber nicht festlegen auf eine Verständnismöglichkeit,
sondern ihn einbeziehen in den Prozeß,
die eigenen Erfahrungen mit den Zumutungen der
Realität in Einklang zu bringen.
Symbolschöpfung
ist eine der zentralen Bedingungen kreativer
Arbeit. Sie scheint mir eine Integrationsleistung
zu sein, die die vielfältigen Prozesse
von Realitätswahrnehmung und affektiver
Resonanz, von regressiver Selbstpassage und
progressiver Selbstdeutung, von Verarbeitung
tradierter Kompromißbildung im Arsenal
von Sprache, Mythologie und Kunst in eine Form
zu bringen vermag, die in ihrer "treffenden"
Evidenz sofort in die tiefsten Schichten des
Rezipienten vorstößt, Wahrnehmungsverzerrungen
umgeht und Abwehrmanöver überlistet,
gleichzeitig aber auch an unsere ICH-Funktionen
appelliert.
Zu
e) Die Sprache ist als Ausdrucksmedium der Literatur
an allen Formelementen der Oberflächenstruktur
beteiligt. Genaugenommen ist sie, das heißt
ihre Klanggestalt und ihre syntaktische Ordnung,
die Oberflächenstruktur. Alle bisher genannten
Formelemente und -aspekte haben eine sprachliche
Seite und Entsprechung: die Symbolik in der
Metaphorik, die Komposition in der Syntax, der
Erzählrhythmus im Satz- und Silbenrhythmus;
auch Ökonomie, Kontur und Gestalt lassen
sich in der syntaktischen Ordnung finden, Evokation
und Visualisierung hängen weitgehend von
Wortwahl und Metaphorik ab usw. Im persönlichen
Stil kann das "identity theme" eines
Autors untersucht werden, die Häufung abstraktsprachlicher
Passagen können den Abwehrmechanismus der
Intellektualisierung ausdrücken, und generell
muß darauf verwiesen werden, daß
jedes Wort im Prinzip eine Kompromißbildung
darstellt und nach der Dechiffriermethode der
Traumdeutung entschlüsselt werden kann.
Die
Sprache kann aber auch als "Form an sich",
als "musikalische" Lautbewegung und
syntaktische Struktur betrachtet werden. Nun
zeigt vor allem die Bedeutung des "Sprachkörpers"
in der Lyrik, daß der Klang häufig
mehr bzw. entscheidendere Informationen enthält
als die Semantik der Worte. Dadurch werden wir
auf ein Entwicklungsstadium verwiesen, in dem
die Sprachlaute für uns reine Musik waren,
auf das erste Lebensjahr, in dem wir in "koinästhetischer
Kommunikation" (R. Spitz) mit unserer frühesten
Bezugsperson verkehrten. Mit anderen Worten:
In der Klanggestalt ist die Erinnerung an das
präverbale Stadium des Kleinkindes aufgehoben,
vor allem die Erinnerung an die Sprache der
Mutter, die Sicherheit, Geborgenheit, Trost
und Zuwendung vermittelte und normalerweise
das erste Zeichen der Beendigung einer Trennungserfahrung
war; in ihr sind aber auch die ersten Versuche
des Säuglings aufgehoben, sich im intermediären
Bereich der Übergangsobjekte (Winnicott
1983) eine eigene "sprachliche" Welt
zu schaffen.
Auf
diese Weise provoziert und ermöglicht die
Klanggestalt eine Regression in einen primärnarzißtischen
Bereich, der aber, und dies ist entscheidend,
durch das Funktionsgefüge des ICH vermittelt
wird. Es sind gerade die Erlebnisse von Ordnung
und Integration, die die Regression ohne die
Gefahr, sich aufzulösen und verschlungen
zu werden, ermöglicht. Dabei gilt wieder
das schon mehrfach beobachtete Funktionsgesetz
der literarischen Form: Je mehr die Sprachstruktur
als rhythmisch-musikalisch und gleichzeitig
als festgefügt erlebt wird, desto mehr
Sicherheit gewährt sie und ermöglicht,
sich auch auf Verbotenes und Abgewehrtes einzulassen.
Gleichzeitig löst sie selbst in ihren fragmentarisierten
und aufgelösten Formen als Kontrafaktur
zu eingefahrenen semantischen, syntaktischen
und prosodischen Mustern Verunsicherung aus
und zwingt zur Auseinandersetzung mit abgewehrten
und unbewußten Bereichen, wie es gerade
die moderne Lyrik tut. Wobei zu sagen ist, daß
alle Formen hochverdichteten, "lyrischen",
d.h. prosodisch überstrukturierten Sprechens
in die Kindheit zurückverweisen und mimetisch
das nachvollziehen, was im Verlauf des Spracherwerbs
vom Kind vorvollzogen wurde. Der bloße
Strom von Klängen, das unverständliche
oder geheimnisvolle Reden, das Zerstören
des Sprachcorpus und seiner syntaktischen Regeln,
das Spiel mit Sprachpartikeln, die Vermischung
heterogener Elemente - all das kennen wir aus
unserer Kindheit.
Interessant
scheint mir zu sein, daß es gerade die
"Oberfläche" eines Kunstwerks
ist, diese "Art von tönender Grenze"(Max
Frisch), seine Sprach-, ja sogar seine Klanggestalt,
die am "tiefsten" in die Seele hineinreicht
und die von einer Regression zu der archaischen
Frühzeit des Künstlers zeugt. Die
Sprache in ihrer ureigensten Ausprägung
als Signifikantenstruktur transzendiert gleichzeitig
sich selbst. Paradox formuliert: Je mehr die
Sprache zum reinen Ausdruck ihrer selbst wird,
desto mehr verliert sie den Charakter der Sprache;
je bewußter die Sprache zum Kunstmittel
erhoben wird, desto unbewußter die Bedeutungen,
die sie transportiert, desto stärker wird
sie zum Mittel und Mittler unbewußter
Kommunikation, desto weiter reicht sie zurück
zu den Anfängen des individuellen (wie
kollektiven?) Lebens.