Der
Ring des Falken
Teil I
1. Kapitel

Verloren sind die
Paradiese der Kindheit
erst dann, wenn man sie
vergisst. Aber ich,
Bernardou, Sohn des
Arnaut, getauft im Jahre
des Herrn 1187 in
Italien, aufgewachsen
auf der Burg von Les
Baux im strahlenden
Licht meiner
provençalischen
Heimat, vor dem Schimmer
der gezackten Kalkfelsen
der Alpilles – ich werde
nie das Glück
meiner Kindheit
vergessen, so wenig wie
die verschlungenen Wege
meines abenteuerlichen
Lebens.
Am Anfang waren die
Augen.
Die tiefbraunen, fast
schwarzen Augen
über mir, die Augen
meiner Mutter. Und das
Lächeln ihrer
geschwungenen Lippen,
die sanft über
meine Kinderhaut
strichen und dann ein
Lied formten, ein
schwermütiges Lied
aus unergründlicher
Ferne, ein Lied voll
Sehnsucht und Kummer.
Ich suchte lange seinen
Ursprung, auf all meinen
weiten Reisen, die mich
bis ins farbige, reiche
Sizilien führten
und später in das
kalte Land nördlich
der hohen Gebirge. Noch
heute klingt mir ihr
Gesang als fernes Echo
in den Ohren, und erst
im Tod wird er
verstummen und
übergehen in den
Gesang der Engel.
Am Anfang waren auch die
Augen meiner
Spielgefährtin
Serena, die von ihrer
Mutter meist Maria
Serena gerufen wurde.
Häufig spielte ich
mit ihr Suchen und
Fangen: Einmal
versteckte sie sich vor
mir, ich entdeckte sie
und wollte sie schon
greifen, da bückte
sie sich und rannte
lachend davon, sprang
über ein
aufgeschrecktes Huhn und
verschwand hinter einem
Felsen. Ich rief nach
ihr, doch sie antwortete
nicht. Überall
waren Handwerker bei der
Arbeit, ein paar
Zimmerleute stellten ein
Gerüst auf,
über den Boden
verstreut lagen Balken
und Bretter, es wurde
gehämmert und
gesägt, Rufe und
Befehle gingen hin und
her, Esel schrien
hungrig und Hühner
gackerten, Schweine
ringelten grunzend ihre
Schwänze – doch von
Serena keine Spur. Ich
wollte mich zum
Taubenhaus
zurückziehen, da
tauchte sie
plötzlich wieder
auf, rief »Fang
mich! Fang mich!«
und wollte sich wieder
verstecken.
Doch schon hatte ich
sie, sie riss sich los,
ich hinterher,
übersah einen
Balken, und da lag ich.
Ich hatte mir die Knie
und die Ellenbogen
aufgeschrammt, blutete
aus einer Wunde an der
Stirn. Natürlich
weinte ich nicht, ein
tapferer Junge war ich,
der einzige Sohn von
Arnaut, dem Falkner und
Schmied, dem ehemaligen
Fußsoldaten und
Kreuzfahrer. Ich lag auf
dem Rücken, und sie
beugte sich über
mich. Da waren sie: ihre
tiefblauen Augen.
Alle, die sie kannten,
so hörte ich
später oft genug,
bewunderten diese
Saphirfarbe, die den
Mistralhimmel unserer
Heimat in sich
aufgesogen zu haben
schien. Niemand hatte so
blaue Augen und so
blondes Haar. Nicht ihr
Vater Uc, Senher de
Baux, ein
Provençale aus
dem Urgestein der
Alpilles, nicht die
Mutter Barrale, die
Grafentochter aus
Marseille, hochgeboren
und hochfahrend, kein
Priester und kein Bauer,
kein Handwerker –
allenfalls der eine oder
andere Troubadour, einer
der Gaukler und
fahrenden Leute, die
immer wieder zu uns
fanden, da sie wussten,
dass man auf der Burg
von Les Baux die Kunst
des lieblichen Gesangs
und der schmachtenden
Verse schätzte.
Serena beugte sich
über mich, sie
lächelte,
»jetzt habe ich
dich gefangen«,
flüsterte sie und
gab mir einen Kuss auf
die Stirn. Nein, sie
küsste mich nicht,
leckte nur das Blut von
der Wunde, aber einen
Wimpernschlag lang
senkte sich ihr
übermütiger
Blick in meine Augen,
bevor sie lachend
aufsprang, mir winkte
und schon wieder hinter
dem nächsten
Ginsterbusch oder
Feigenbaum verschwunden
war.
Ich schaute ihr nach,
und jetzt erst biss mich
der Schmerz. Mit dem
Handrücken wischte
ich über die
blutenden Wunden, dann
humpelte ich zu unserem
Häuschen, das unter
der Tour Paravelle lag,
in der Nähe des
Taubenturms, angrenzend
an die Schmiede und das
Falkenhaus.
Mein Vater, der dem
alten Senher de Baux auf
dem gemeinsamen Kreuzzug
nicht nur einmal das
Leben gerettet hatte,
war ein geschickter
Waffenschmied, stark wie
ein Stier, zugleich ein
Falkner, der zart und
fürsorglich mit den
Vögeln umgehen
konnte. Mit seinen
breiten Schultern und
den Aschespuren im Haar
sprach er nur das
Nötigste, aber ich
musste ihm aufs Wort
gehorchen, sonst setzte
es Schellen. Zugleich
führte er mich
geduldig in die
Falknerei ein. Meine
Mutter schaute er immer
auf eine ganz besondere
Weise an, das erkannte
ich sogar als Kind
schon: mit stummer Liebe
und wortloser Wehmut.
Er sah nicht gern, wenn
ich mit Serena zusammen
war. Sire Uc, unser
Herr, sah es noch
weniger gern. Dennoch
suchten und fanden
Serena und ich uns immer
wieder, wir hüpften
Hand in Hand über
Stock und Stein,
fütterten die
Tauben und kicherten
über ihr gurrendes
Sich-Plustern und
Rucke-di-guh-Geflatter.
Anschließend
schlichen wir geduckt zu
den Büschen, wo die
Nachtigall verborgen
flötete, und flog
sie schließlich
davon, versteckten wir
uns hinter einem Felsen,
um die Wanderfalken zu
beob¬achten, die im
Sturzflug die Dohlen des
Donjon schlugen, oder
das Adlerpaar, das hoch
über der Burg seine
ruhigen Kreise zog.
Neben Serena gab es
natürlich andere
Kinder auf der Burg,
Kinder meines Standes,
sie lärmten in
ihren schmutzigen,
verlausten Kitteln,
mussten, wie auch ich,
bei der Arbeit helfen,
prügelten sich,
schnitten Katzen die
Schwänze ab oder
jagten Ratten und
Mäuse. Meist
hänselten sie mich
wegen meiner
unzähmbaren
Stirnlocke oder mieden
mich gänzlich, als
wäre ich
aussätzig.
Erst viel später
begriff ich, dass es an
meiner Mutter lag. Auch
sie wurde gemieden.
Dabei sprach sie
durchaus die Sprache
unserer Heimat, ihre
Haare und Augen waren
nur wenig dunkler als
die Haare und Augen von
Barrale de Baux oder den
Mägden, den
Ziegenhirtinnen und
Wäscherinnen, den
Tänzerinnen der
Gauklertruppen, die von
Narbonne, Toulouse oder
Barcelona hergezogen
kamen.
Warum verbinden sich so
viele Erinnerungen an
meine Kindheit mit
Serena? Weil ich sie
schon früh liebte
und nie aufhören
sollte zu lieben? Weil
sie die einzige war, die
sich nicht um den
düsteren Ruf
kümmerte, der meine
Mutter umgab wie eine
unsichtbare Mauer? Die
sich sogar dem Verbot
ihres Vaters
widersetzte, sich mit
dem Sohn eines Falkners
abzugeben, und sich mit
ihm an den Rand des
Felsplateaus setzte.
Dort, unter dem
Sarazenenturm,
ließen wir die
Beine über den
Abgrund baumeln und
schauten nach
Süden, auf die
Olivenhaine und
Weinberge, die in
rechteckigem Muster
angelegt waren, auf die
Zypressenreihen und
wilden Hecken, auf die
sich schlängelnden
Pfade, die zu
Bauernkaten und
Ölmühlen
führten und an
deren Rändern
Ziegen grasten. An
manchen Tagen glitzerte
in der Ferne sogar das
Meer, es gab keinen
Horizont, nur ein
Gleißen und
Schimmern, ob Himmel
oder Wasser, wir wussten
es nicht, es
kümmerte uns auch
nicht, denn wir beide
träumten von der
Ferne.
An anderen Tagen sah ich
Serena nicht. Der Senher
empfing wieder Besuch
aus Orange oder Arles,
aus Marseille oder
Tarascon. Ich musste
helfen, die Pferde zu
versorgen.
Später hörte
ich aus dem großen
Saal des Palais den
Klang der Fidel und der
Laute, der Flöten
und Tamburine, die
sanfte Stimme der
Troubadoure, die ihre
sehnsüchtigen
Lieder sangen zu Ehren
von Barrale, der Domna,
der zwar lange
schöne Flechten auf
die Schultern fielen,
zugleich aber eine
Hakennase im
hoheitsvollen Antlitz
stand und die, wenn sie
lachte, ein Pferdegebiss
entblößte.
Doch ihre langen
Bliauds, in denen sie
mehr oder weniger
gemessen über die
ungleichmäßigen
Steinwege der Burg
schritt, waren aus
dunkelroter Seide und
über dem
Gürtel seitlich
abgenäht, die
Borten mit Edelsteinen
besetzt oder von
Goldfäden
durchzogen, die
kronenartigen Hauben aus
Pelz, und ihre weiten
Ärmel hingen tief
herab.
Mir war aufgetragen
worden, Pferdeäpfel
aufzusammeln. Um mich
herum schmatzten,
grunzten und quiekten
die Schweine mit ihrer
Ferkelschar. Oben im
großen Saal der
Burg sangen die
Troubadoure. Ich schaute
hoch zu den erleuchteten
Fenstern des Palais,
hörte ihre
schmelzenden Stimmen,
das belcanto, wie die
Italiener sagen, bis
mich ein Pferdeknecht
unsanft in die Rippen
stieß.
Die Tauben flogen und
flatterten um ihr Haus,
ruckten gurrend
ihre Hälse, es
dunkelte bereits, und
die Fledermäuse
schrieben die schwarzen
Zacken ihres Flugs in
den abendlichen Himmel.
Ich hörte meinen
Vater den Stahl
schlagen, ein helles
Plingpling, und durch
den Lichtschein der
Palaisfenster huschten
Schatten. Wieder erhielt
ich einen Stoß und
die Aufforderung,
gefälligst zu
schaufeln und nicht zu
träumen.
Ich scharrte unwillig
die Hinterlassenschaften
der Pferde zusammen und
kippte sie in einen
Eimer, doch wanderte
mein Blick erneut nach
oben. Jetzt beugte sich
sogar eine der
Tänzerinnen aus dem
Fenster und
fächerte sich
kühle Abendluft zu.
Weit öffnete sich
ihr Kleid, die schattige
Verheißung ihres
Ausschnitts und der
schwarze Rahmen ihrer
tief fallenden dunklen
Haare ließen
meinen Mund offen
stehen. Doch rasch
fasste ich mich und
winkte ihr; sie winkte
zurück. Ja, sie
winkte tatsächlich,
warf mir hellauf lachend
eine Kusshand zu.
Ich atmete ein paar Mal
rascher und machte mich
wieder an den
Pferdeäpfeln zu
schaffen.