Auf der einen Seite die Epoche der Cäsaren, auf
der anderen die Jahrzehnte der Gotenkriege; hier
die leuchtende Pracht von Renaissance und Barock,
dort das von Kardinal Caesar Baronius bereits
1602 so genannte saeculum obscurum, das
dunkle 10. Jahrhundert, das in die Kirchengeschichte
als Epoche der Pornokratie, der Huren-
oder Weiberherrschaft, eingegangen
ist.
Dunkel erscheint uns dieses Jahrhundert
in Rom und Italien aufgrund der dünnen Quellenlage,
der anarchischen und grausamen Zustände, des Niedergangs
kultureller Schöpfungen. Was man aus dieser Zeit
weiß, ist zudem alles andere als ein Ruhmesblatt
der Kirche: So lösten zwischen 896 und 904 acht
Päpste einander ab, von denen ein nicht unerheblicher
Teil ermordet wurde. Manche starben sogar durch
die Hand ihrer Nachfolger. Besonders Sergius III.,
der vermutlich auch hinter dem Formosus-Prozeß
stand, zeichnete sich durch eine mörderische Politik
aus, wie man sie gewöhnlich nicht mit den Nachfolgern
der Apostel verbindet. Was die Sexualmoral der
kirchlichen Oberhäupter angeht, so läßt sie sich
nur vergleichen mit der Moral der berüchtigten
Renaissancepäpste wie Alexander VI. Borgia, wobei
zugunsten des Spaniers zu sagen ist, daß er als
echter ›Macho‹ die Hosen anbehielt, während Marozias
Sohn und Enkel, die als Johannes XI. und XII.
auf dem Stuhl Petri saßen, sich durch mutterhöriges
und caligulahaftes Verhalten auszeichneten.
Betrachtet man die wenigen Zeugnisse der Zeit
und die Geschichten, die sich um sie ranken, blickt
man in einen veritablen ›Sündenpfuhl‹, wie frühere
Zeiten wohl gesagt hätten. Man versteht, warum
die katholische Kirche diesen Teil ihrer Historie
schamhaft als dunkel bezeichnet und gewöhnlich
mit ein paar bedauernden Federstrichen übergeht
– wobei anzumerken ist, daß insbesondere ein kirchlicher
Würdenträger, nämlich Bischof Liutprand von Cremona,
zu dem Ruf der Pornokratie beigetragen
hat. In seinen drei Büchern der Vergeltung,
einer der Hauptquellen für die Geschichte Italiens
im 10. Jahrhundert, werden Theodora und Marozia
nur als Huren (meretrix, scortum)
bezeichnet. Er geißelt die Tatsache, daß Papst
Johannes X., dem Rom, Italien und die Kirche immerhin
den Sieg über die Sarazenen am Garigliano verdankt,
Theodoras Geliebter war und durch sie seine Stellung
errang. Er schwingt auch die Moralkeule über die
Tatsache, daß Papst Sergius III. der Vater von
Marozias erstgeborenem illegitimen Sohn war, einem
›Bastard‹ also, der in jungen Jahren von ihr zum
Papst gemacht wurde. Daß ihr Enkel, der Sohn Alberichs
II., als Mensch und Papst ein vom Geist der Christentums
wenig berührter sittenloser Kretin war und einen
kaum zu unterbietenden Tiefpunkt des Papsttums
darstellte, paßt ins düstere Bild.
Allerdings läßt sich selbst bei flüchtiger Vergeltungs-Lektüre
feststellen, daß der Kleriker Liutprand ein frauenfeindlicher,
selbstverliebter und zugleich rachsüchtiger Schwätzer
war, dessen Urteile mit Vorsicht zu genießen sind.
Wie man überhaupt, sobald man sich ein wenig intensiver
mit den Jahren zwischen 880 und 960 in Italien
beschäftigt, rasch begreift, daß die sokratische
Skepsis gegenüber angeblich gesichertem Wissen
die einzig angemessene Haltung ist.
Abgesehen von Spezialuntersuchungen, von denen
sich einige mit dynastischen Fragen beschäftigen,
gibt es im deutschen Sprachraum keine mir bekannte
neuere Gesamtdarstellung der Epoche. Harald Zimmermanns
von mir herangezogene Monographie Das dunkle
Jahrhundert. Ein historisches Porträt ist
1971 erschienen, und eine Arbeit wie Otto Gerstenbergs
Dissertation Die politische Entwicklung des
römischen Adels im 10. und 11. Jahrhunderts
stammt aus dem Jahre 1933. Erstaunlicherweise
ist Ferdinand Gregorovius’ vielbändige Geschichte
der Stadt Rom im Mittelalter, obwohl anderthalb
Jahrhunderte alt, noch immer eine unübertroffen
detailreiche und zugleich stilistisch glänzende
Darstellung auch des dunklen Jahrhunderts.
Sein im Urteil ausgewogenes Werk diente mir als
Hauptquelle und Faktenlieferant meines Romans.
Als unverzichtbares ergänzendes und vertiefendes
Hilfsmittel muß darüber hinaus erneut das neunbändige
Lexikon des Mittelalters genannt werden.
Es erübrigt sich zu betonen, daß das durch Ritterfilme
und zahlreiche Romane verbreitete Bild des Mittelalters
für die Jahre zwischen Karl dem Großen und der
Jahrtausendwende kaum zutrifft: Burgenromantik,
Turniere und Minnesang gab es noch nicht, von
verwinkelten Fachwerkgassen und himmelstürmenden
Gotteshäusern ganz zu schweigen, feudalistische
Strukturen bildeten sich erst langsam heraus,
die Menschen lebten in Mittel- und Westeuropa
in Armut und Aberglauben, häufig auch in Anarchie
und unaufhörlicher Bedrohung durch brutale Gewalt,
Hunger und Krankheiten.
Zu gleicher Zeit finden wir im südöstlichen Europa,
also im byzantinischen Reich, und im islamischen
Orient Hochkulturen, von denen die Menschen im
dreigeteilten Frankenreich nur träumen konnten.
Byzanz und die arabische Welt bekämpften sich
allerdings heftig, mit wechselnden Erfolgen, der
islamische Machtbereich teilte sich in selbständige
Kalifate und gedieh nicht nur aus innerer Kraft,
sondern bereicherte sich durch anhaltende Piraterie
und Ausplünderung der mittelmeerischen Küsten.
Italien wurde nach dem fränkischen Sieg über das
Langobardenreich im Süden teils byzantinisch,
teils arabisch beherrscht und zerfiel in seinen
anderen Landesteilen in regionale Herzogtümer
und Markgrafschaften ohne eine zentrale Macht,
heimgesucht nicht nur von den Sarazenen, sondern
auch von den Ungarn. Daß weder Herrschaft noch
Verwaltung adäquat funktionieren konnten, technisches
Wissen verfiel und kulturelle Schöpfungen, falls
sie überhaupt entstanden, zerstört oder geraubt
wurden, braucht nicht zu verwundern. Das gleiche
gilt für Dokumente der Literatur und Verwaltung:
Pergament brennt leicht, und es grenzt an ein
Wunder, wenn sich manche schriftlichen Zeugnisse
über die Jahrhunderte retten konnten. Hinzu kommt,
daß im Mittelalter häufig Dokumente absichtlich
vernichtet und zudem gefälscht wurden – auch und
gerade von kirchlichen Kanzleien. Berühmtes und
historisch weitreichendes Beispiel ist die sogenannte
Konstantinische Schenkung, die immerhin
die Grundlage legte für die Entstehung des Kirchenstaats
und den Suprematsanspruch des Papstes.
Nicht ganz zufällig hat der Historiker Heribert
Illig die Jahre zwischen dem siebten und dem zehnten
Jahrhundert in seinem Buch Das erfundene Mittelalter
als »die größte Zeitfälschung der Geschichte«
bezeichnet. In seinen Augen hat es diese Zeit
gar nicht gegeben, die wenigen verfügbaren Quellen
und Zeugnisse seien Fälschungen. Nun mag man diese
Hypothese, die sich durchaus auf gründliche Forschungen
stützt, für abenteuerlich überzogen halten, bezeichnend
für die ›Dunkelheit‹ des Säkulums ist sie auf
jeden Fall.
Dieser kurze historische Abriß soll deutlich machen,
daß mein Roman über den Aufstieg eines Adelsgeschlechts
in Rom und seine weiblichen Heldinnen sich der
schmalen Quellenbasis bewußt ist und sich dennoch
um Authentizität bemüht. Diese Authentizität bezieht
sich nicht allein auf die Figur der Marozia und
ihre Eltern Theodora und Theophylactus, ihre Kinder
und Ehemänner sowie auf die Päpste Sergius III.,
Johannes X. und den ›Bruder‹ Petrus, sondern auch
auf den wirtschaftlichen Hintergrund und den Alltag
der Menschen und natürlich auf überlieferte Ereignisse
wie den Prozeß gegen den Leichnam von Papst Formosus,
das Erdbeben und den Einsturz der Lateranbasilika,
König Arnulfs Auftritt in Rom und den Kampf der
Agiltrud von Spoleto, die zahlreichen Kurzzeitpäpste
und die Vernichtung der Sarazenen am Garigliano.
Die Herrschergeschichte mit ihren wechselnden
Königen und Kaisern wurde nur insoweit angerissen,
als sie für die Romanhandlung relevant war. Als
eine Art Warlord-Epoche ist sie wenig durchschaubar
und zeugt von der äußersten Brutalität der damaligen
Zeit, die die Blendung des Gegners offensichtlich
für ein probates Mittel hielt, ihn auszuschalten.
Insofern ist auch das Gottesurteil zwischen König
Hugo und seinem Halbbruder Lambert von Tuszien
mit der nachfolgenden Blendung keine Erfindung
einer überschießenden Autorphantasie, sondern
grausames Faktum der Geschichte.
Was
hat mich nun gereizt, die Erzählung vom Aufstieg
und Fall der Marozia und ihrer Familie mit all
ihren faszinierenden wie schockierenden Details
aufzugreifen?
Die beiden Heldinnen der römischen Hurenherrschaft
waren mir seit langem, nicht erst seit meinen
Erkundungen in der Engelsburg bekannt; sie fehlen
in keiner Sittengeschichte der römischen Kirche
bzw. des Papsttums und werden meist nicht ohne
süffisanten Unterton mit moralinsaurem Beigeschmack
berichtet. Ohne Zweifel: Theodora und Marozia
(bzw. das, was man von ihnen weiß und was man
ihnen nachsagt) geben eine reizvolle und zugleich
reißerische Vorlage ab für einen historischen
Roman, und zwar nicht nur wegen der pikanten erotischen
Zusammenhänge.
Das Unwahrscheinliche und nahezu Unglaubliche
ihrer Existenz liefert einen klassischen Plot:
Zwei Frauen steigen aus dem Nichts ins Rampenlicht
der Geschichte, verhelfen ihrer Familie und sich
selbst zur Macht und bestimmen über Jahrzehnte
die Politik des Papsttums. Zu Fall werden sie
nicht (allein) durch äußere Mächte gebracht, sondern
durch ihre eigene Persönlichkeit und die Konflikte,
die sich daraus ergeben. Mit ihrem Leben wird,
um Goethe in leichter Abwandlung zu zitieren,
nicht nur das Unzulängliche Ereignis, mit ihnen
zieht uns auch das Ewig-Weibliche hinan, und zwar
auf die Ebene narrativer Phantasie.
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Anfangs
machte ich einen Bogen um den reizvollen
Stoff, weil ich ihn für zu reißerisch
hielt, weil der Ruf von Theodora und Marozia
zu negativ klang: Mörderische Huren als
Protagonistinnen? Wo bleibt da die sympathische
Heldin? Als ich mich dann aber genauer mit
der Materie beschäftigte, wuchs die Skepsis
gegenüber Liutprands lange nachwirkender
Verleumdungskampagne, zumal heutzutage die
Sexualmoral eines eifernden Geistlichen
kaum noch als Maßstab eines ausgewogenen
Urteils dienen kann. Das Medusenantlitz
und Medeahaupt der beiden Römerinnen verwandelte
sich in ein Bild der ewig-weiblichen femme
fatale, der erotisch starken und politisch
einflußreichen Frau, die schon immer für
Erzähler wie für Leser ein sphinxhaftes
Faszinosum darstellte – nach dem Motto:
Geheimnis, dein Name ist Weib.
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Die
›Begegnung‹ mit der byzantinischen Griechin Aglaia
erhöhte dann entscheidend das Interesse an der
Geschichte und seinen Figuren. Eine andere Welt
kam ins Spiel, ein ganz anderes Schicksal und
ein Charakter, der ebenfalls geheimnisvoll und
faszinierend zugleich ist, gerade weil er ein
Gegenbild zu der femme fatale darstellt.
Gereizt an dem Stoff haben mich darüber hinaus
die Düsternis und das Durcheinander dieser Epoche.
Man muß sich vorstellen, daß Rom im 9. und 10.
Jahrhundert eine Schutthalde der Geschichte war,
mit Ruinen und einzelnen Bauwerken aus großer
Zeit, die als Steinbruch dienten oder in die sich
die restlichen ca. dreißigtausend Einwohner eingenistet
hatten. Das Oberhaupt der Stadt war zwar der Papst
als Bischof von Rom, doch eine Verwaltung im engeren
Sinn existierte nicht; faktisch herrschte Anarchie.
In mittleren und nördlichen Italien fehlte nach
dem Niedergang der fränkischen Oberherrschaft
ebenfalls eine zentrale Befehlsgewalt: Es wurden
zwar Könige gewählt und Kaiser gekrönt, aber Machtausübung
mußte gegen Widerstand durchgesetzt werden. Es
kam zu Parteibildungen und kurzfristigen Allianzen,
zu Aufständen und Verrat, zu Gegenkaisern und
einem bunten Reigen von sich brutal befehdenden
Fürsten. Männer wie Alberich stiegen aus dem sozialen
Nichts auf und errangen schließlich sogar Markgrafenwürde.
In Rom schrie das Machtvakuum förmlich nach Personen
und Familienclans, die geschickt genug waren und
über Wille wie Mittel verfügten, die Herrschaft
an sich zu reißen. Aus ihnen bildete sich (nach
Mafia-Muster, vermute ich) eine neue Adelsoligarchie,
die, auf ihren Grundbesitz im Umfeld der Stadt
gestützt, für Jahrhunderte die Päpste stellte,
die Pfründe der Kirche unter sich aufteilte und
nicht zimperlich war, wenn es darum ging, eigene
Vorteile zu erobern oder zu verteidigen.
Ein wichtiger Grund für die landesweite Anarchie
lag in der bereits erwähnten Ausplünderung des
Landes: Die Sarazenen machten brandschatzend die
Küsten unsicher und beuteten das südliche Italien
aus. Von Nordosten drangen die Ungarn ein und
verwüsteten zuerst die Po-Ebene, später zogen
sie bis nach Apulien.
Die Regionalgeschichte der Küstengebiete zeigt,
daß durch die Sarazenenüberfälle weite Landstriche
verödeten und menschenleer waren. Dies gilt zum
Beispiel für das südliche Piemont, darüber hinaus
für die Provence: Dort hatten sich die Sarazenen
um Fraxinetum (Fréjus bei Saint Tropez und dem
Massif des Maures) – wie am Garigliano
– achtzig Jahre lang niedergelassen und das Land
heimgesucht. Es ist immer wieder ein Rätsel, wie
die Menschen damals (über-)leben konnten, wie
sie wirtschafteten, wie sich nach Verwüstung neue
Herrschaft bildete, wie so etwas wie ein Gemeinwesen
entstehen konnte.
Bei meinen diesbezüglichen Recherchen hat mir
die wirtschaftsgeschichtlich ausgerichtete Studie
Das frühe Mittelalter von Jan Dhondt weitergeholfen.
Hier fand ich auch Hinweise auf die Entwicklung,
die man in Italien die Phase des incastellamento
nennt: Aufgrund der dauernden Überfälle lösten
sich die ungeschützten Flachlandsiedlungen und
lose verstreuten Gehöfte und Domänen auf, die
Bevölkerung, so sie überlebte, zog sich in befestigte
Bergdörfer zurück. Die neu entstehende und sich
häufig befehdende Herrenschicht benötigte zudem
gesicherte Burgen und eine zunehmende Verteidigungsfähigkeit
ihrer städtischen Wohnanlagen, die schließlich
zu der Architektur der Geschlechtertürme führte,
wie wir sie heute noch in San Gimignano und einigen
anderen Orten Italiens vorfinden.
Wer von den pittoresken Dörfern, die wie Adlerhorste
im unwegsamen Berggelände thronen, fasziniert
ist, macht sich selten klar, daß sie nicht zuletzt
die Folgen der arabischen und ungarischen Invasion
und ihrer Politik von Raub, Mord und Versklavung
sind.
In diesem Sinne weist mein Roman auch darauf hin,
daß die gewaltbetonte Auseinandersetzung zwischen
dem Islam und dem christlichen Abendland nicht
mit den Kreuzzügen beginnt, wie man heute gelegentlich
den Eindruck gewinnen könnte. Bekannt ist, daß
die arabischen Eroberungen erst im Zentrum Frankreichs
bei Tours und Poitiers aufgehalten werden konnten.
Weniger bekannt ist, daß die mittelmeerische Welt
über viele Jahrhunderte unter der Geißel sarazenischer
Plünderungen litt und einen hohen Blutzoll zahlen
mußte. Daß diesem Ausbluten und Veröden auch ein
Kulturverlust folgte sowie eine Erosion von Moral
und Menschlichkeit, ist leicht nachvollziehbar.
Vor diesem Hintergrund gewinnen die drei weiblichen
Hautfiguren meines Romans eine symbolische Bedeutung
für die Kraft, die in uns Menschen steckt. Insbesondere
in dem Verhalten der Aglaia habe ich eine Stärke
gefunden, die man heutzutage Resilienz
nennt und der man sich in der Psychologie zunehmend
widmet. Früher sprach man von Seelenstärke
und Leidensfähigkeit. Im Zeitalter einer
allgegenwärtigen Opferkultur und Therapiebedürftigkeit
ist menschliche Resilienz, die trotz schwerer
Kindheit und gnadenloser Schicksalsschläge zu
psychischer Gesundheit und humaner Größe führt,
zu Empathie und Liebesfähigkeit, eine erstaunliche
und bewunderungswürdige Erscheinung, zugleich
ein menschliches Rätsel – und immer wert, daß
man von ihr realistisch und ambivalenzbewußt,
ohne Beschönigung und Verklärung erzählt.
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