Rückseite der Villa
Farnese, Blick von der
Via Giulia
Prolog
Rom,
Tor di Nona, im
Dezember 1558
Mein
Liebster,
ich flehe dich
an: Befreie mich aus
diesem Albtraum!
Vor ein paar
Tagen wurde ich auf
der Piazza Navona in
aller Öffentlichkeit
von den Bütteln des bargello
angehalten,
beschimpft, geschlagen
und gefesselt. Sie
schleppten mich
anschließend zum Tor
di Nona und warfen
mich in den düstersten
Kerker, ohne wärmende
Kleidung, ohne Wasser
und Brot. Erst als
Marta fünfzig scudi brachte, wurde mir ein bequemerer
Raum zugestanden,
ordentliches Wasser,
Stroh und eine
Mahlzeit. Nun sitze
ich hier und darf dir
schreiben. Auch das
Blatt Papier lassen
sich die Wärter
bezahlen, als müsse es
mit Gold aufgewogen
werden.
Meine Hand
zittert, denn mir
droht im schlimmsten
Fall die Todesstrafe –
durch den Strick oder
sogar auf dem
Scheiterhaufen. Was
habe ich nur getan?
Der Liebe einen
Schutzraum gewährt!
Kann dies Unrecht
sein?
Mein Liebster,
ich flehe dich an:
Eile nach Rom und
befreie mich aus
diesem Rattenloch! Wie
viele Unschuldige hat
man schon zu falschen
Geständnissen
gezwungen, indem man
sie der Folter
unterwarf … Wie viele
Todgeweihte bangten,
gebrochen und bis aufs
Blut gepeinigt, in
schaudernder Angst der
Stunde entgegen, in
der sie vor ihren
letzten Richter treten
mussten!
Bereits als
junges Mädchen habe
ich das Schlimmste
erdulden müssen. Auch
später noch, du weißt
es, wurde ich
erniedrigt und
gequält. Die Kehle
schnürt sich mir zu,
wenn ich daran denke,
was mir drohen könnte.
Die alten Dämonen
kehren wieder, ich
kann mich ihrer kaum
erwehren, wie
Abgesandte der Hölle
greifen sie nach mir,
wollen mich
hinabziehen …
Ich bete, dass
dich meine Zeilen
erreichen! Gedenke der
Liebe, die uns stets
verbunden hat! Ich
weiß, dass dich der
Ehrgeiz treibt,
endlich das große Ziel
zu erreichen, das du
seit Jahren anstrebst.
Auch du hast
verzichten müssen –
dafür wirst du belohnt
werden, wenn es denn
einen gerechten Gott
gibt.
Und es kann
nur einen gerechten
Gott geben.
Mein Liebster,
lass nicht zu, dass
ich alles verliere,
was mir in diesem
Leben geblieben ist.
Ich bin Opfer einer
wahnhaften Verfolgung
geworden, die unser
ehrwürdiges Rom wie
eine Seuche heimsucht.
Dabei habe ich noch
immer nicht die
Hoffnung verloren,
dass uns beiden die
Gnade der erfüllten
Liebe gewährt werden
könnte.
Mein Liebster,
lass mich nicht im
Stich!
Immer die
deine – Lucrezia
Teil
I
Die
Dämonen
1
Rom,
Villa Diana,
April 1535
Der
Morgen begann schon
zu dämmern, als
Lucrezia die letzten
Gäste am Portal
ihrer Villa mit
einem
vielversprechenden
Lächeln
verabschiedete. Ihr
bedeutendster Gast,
Papst Paul III.
Farnese, hatte sich
bereits früher
zurückgezogen –
immerhin hatte er
Lucrezia die Ehre
seines Besuchs
erwiesen und sogar
ihr Haus geweiht,
mitsamt dem
kunstvoll angelegten
Garten, der sich bis
zum Tiberufer
erstreckte.
Zahlreiche Gäste
gehörten zu seinem
Gefolge,
insbesondere sein
Enkel, der
frischgebackene
Kardinal Alessandro
Farnese und seine
jungen Freunde, aber
auch weitere, ältere
Kardinäle, nahezu
alle in weltlicher
Tracht. Hinzu kamen
Männer aus den
besten Adelsfamilien
der Stadt, Roms
Philosophen und
Literaten, reiche
Kaufleute und banchieri,
Botschafter aus
Frankreich und
Venedig, Florenz und
den Ländern nördlich
der Alpen.
Die
jungen Mädchen, die
Lucrezia zu Perlen
ihres Berufs
ausbildete und die
bereits für sie
arbeiteten, hatten
nicht ausgereicht,
all die
anspruchsvollen
Gäste mit Gesang und
Flötenspiel,
Tanzvorführungen und
Stegreifeinlagen
sowie kluger
Konversation zu
unterhalten.
Lucrezia hatte daher
noch einige ihrer
Kolleginnen und
Konkurrentinnen
eingeladen: Die
meisten waren in
teuerster, tief
ausgeschnittener
Robe erschienen,
keine ohne Gefolge,
manche süßlich
gratulierend, andere
spitzzüngig, alle
voller Neid und
Bewunderung.
Lucrezia
Onesta
Aretina, von ihren
Bewundern La Luparella,
die Wölfin,genannt, hatte es
geschafft.
Sie
war die schönste und
teuerste Kurtisane der
Stadt, größer als die
meisten ihrer
Kolleginnen und
zugleich schlanker,
aber blond wie alle,
mit hochstehenden
Wangenknochen und
weiten Augen unter
sanft gewölbten
Brauen, einer schmalen
Nase und einem starken
Kinn. Das
Verführerischste an
ihr war jedoch ihr
Lächeln, das Unschuld
mit magischer Lockung
verband, sowie ihre
Stimme, die noch
samtiger und zugleich
rauchiger klang als
die Stimme ihrer
Mutter Diana und die
aus den Tiefen ihrer
vollen, wohlgerundeten
Brust hochstieg, um in
einem hellen
Springbrunnenlachen zu
enden.
Obwohl
erst zwanzig Jahre
alt, hatte Lucrezia
bereits einige Häuser
gekauft, die meisten
in der Nähe des Ponte
Sisto und des Palazzo
Farnese. In dem am
schönsten gelegenen
Haus, der weiträumigen
Villa Diana, lebte und
arbeitete sie selbst,
in den anderen
arbeiteten ihre
Mädchen.
Endlich
hatte Lucrezia ihr
Portal an der Via
Giulia schließen
können. Sie rief nach
Mansueto, ihrem
Mastino Neapolitano.
In weiten Sätzen
sprang er heran und
schmiegte seinen
mächtigen Kopf an ihre
Hüfte. Er war ihr
Liebster. Bereits als
Welpe hatte er immer
ihre Nähe gesucht.
Kürzlich war seine
Mutter Rabbia
gestorben, die wegen
ihres leicht reizbaren
Verhaltens einige
ihrer Kunden
verschreckt hatte und
daher immer
eingeschlossen werden
musste. Vermutlich
hatten die Erlebnisse
während des acht Jahre
zurückliegenden sacco
ihr von Natur aus
gutmütiges Temperament
verändert. Die
Eroberung und
Plünderung durch die
Söldner des Kaisers
hatten Rom in Trümmern
zurückgelassen und
alles verändert, nicht
nur das Verhalten der
Hunde, sondern auch
der Menschen –
derjenigen, die das
Glück hatten, die
apokalyptischen Tage
zu überleben.
Mansueto,
so stark er war mit
seinem grauen Kopf und
einem Gebiss, das
jeden Knochen
zermalmte, ließ sich
im Gegensatz zu seiner
Mutter selten aus der
Ruhe bringen. Die
Liebe zu seiner Herrin
war unerschütterlich.
Nur selten gab er
Laut: ein tiefes
Grollen, das in
schärferem Knurren
oder in heiserem
Bellen enden konnte.
Aber ihm entging
nichts. Solange er
seine Herrin in
Sicherheit wähnte,
blieb er friedlich,
ließ sich ohne Protest
wegschicken, wenn sie
Besuch empfing. Doch
wehe, jemand näherte
sich ihr in
feindlicher Absicht!
Lucrezia
schlenderte zum cortile,
dem säulengesäumten
Innenhof ihrer Villa,
in dessen Mitte ein
Springbrunnen
plätscherte. Unter der
Aufsicht Martas, ihrer
alten Amme und
Vertrauten, wurden die
gröbsten Folgen des
Fests beseitigt. Zu
Bett würde heute
niemand mehr gehen, es
sei denn, um sich dort
der – in dieser Nacht
besonders teuren –
Liebe hinzugeben. Für
diesen Fall waren im
Gästetrakt der Villa
einige Zimmer
gerichtet. Wer sonst
noch zu später Stunde
aus dem Honigtöpfen
naschen wollte, hatte
die paar Schritte zu
den Häusern der
Mädchen zu gehen oder
sich mit den
Kolleginnen auf den
Weg zu machen.
Hinter dem Geviert des
Haupthauses umfassten
zwei Flügel einen Hof
und führten in den
Garten. In diesen
Flügeln befanden sich
Speicherräume und eine
Werkstatt, war der
Pferdestall
untergebracht, stand
Lucrezias neu
erworbene Kutsche, ein
Prachtstück und
wahrhaft nicht billig.
Leichter Nebel war vom
Tiber hochgezogen und
verwandelte den leicht
abschüssigen Garten
mit seinen
buchsgesäumten Wegen
und den bereits
blühenden Narzissen,
den duftenden
Hyazinthen und
Veilchenrabatten in
ein Feenreich.
Trotz der Morgenkühle
spazierte Lucrezia mit
Mansueto an der Seite
zum Tiberufer, zu
ihrer
antikengeschmückten
Säulenloggia. Hier
träumte sie in ihren
Ruhestunden über den
Fluss hinweg, dankte
dem gnädigen Gott für
ihren Erfolg und
versuchte, die
vergangenen
Heimsuchungen zu
vergessen.
Im
Wasser spiegelte sich
eine weitere Loggia,
die am
gegenüberliegenden
Ufer stand, und hinter
ihr, durch die kahlen
Äste der mächtigen
Platanen halb
verborgen, erhob sich
die schönste
Gartenvilla der Stadt,
vor gut zwanzig Jahren
von dem banchiere
Agostino Chigi erbaut
und von Raffaello
Sanzio und seinen
Schülern wie Kollegen
mit Fresken
geschmückt, ein stein-
und bildgewordener
Hymnus an die Liebe –
seit Lucrezias
Kindheit war diese villa d’amore das Wunschbild
ihrer Träume.
Mittlerweile war die
Villa, fünfzehn Jahre
nach dem Tod des
reichsten aller
römischen banchieri,
selten bewohnt, und
der Park verwilderte –
mit der Folge, dass
die Familie Farnese
ein Auge auf sie
geworfen hatte.
Gerüchte gingen um,
der kürzlich frisch
ernannte Kardinal
Alessandro Farnese
interessiere sich für
die Villa und
beabsichtige, sie vom
Geld seines
päpstlichen Großvaters
zu erwerben.
Einen besseren
Nachbarn als ihn
konnte sich Lucrezia
nicht vorstellen. Der
blutjunge Kardinal –
er war erst vierzehn
Jahre alt – hatte sich
während des Abends
bemüht, in seinem
Brokatwams mit den
enganliegenden
Seidenstrümpfen und
den goldbestickten
Schuhen wie ein
vollendeter gentiluomo
auszusehen und ihr
dabei die
charmantesten
Komplimente
zuzuflüstern.
Eigentlich hätte sie
lachen müssen, aber
natürlich reagierte
sie mit gewinnenden
Augenaufschlägen,
samtigem Lächeln und
scheinbar zufälligen
Berührungen –
vielleicht wuchs mit
ihm ein neuer Kunde
heran. Alessandro
Farnese wirkte trotz
seiner Jugend bereits
männlich, seine großen
dunklen Augen
versprachen seelische
Tiefe und warmes
Mitgefühl, und mit den
breiten, vollen Lippen
mochte man in einem
Kuss versinken. Auf
jeden Fall schien er
bereits jetzt schon
über üppige Pfründe zu
verfügen, denn könnte
er sonst in Erwägung
ziehen, die kostbar
ausgestattete
Gartenvilla zu kaufen?
Mittlerweise zogen die
Preise für Häuser in
Rom spürbar an,
nachdem sie im
Anschluss an die
Verwüstungen des sacco
in den tiefsten Keller
gefallen waren. Dies
hatte Lucrezia,
beraten durch ihren
leider in Venedig
lebenden Vater und
ihren bereits in
jungen Jahren durch
die europäischen
Finanzzentren
reisenden Halb- und
Milchbruder Antonio
rasch begriffen. Alles
verfügbare und zudem
noch geliehenes Geld
hatte sie in den Kauf
von Häusern und
hübschen Weingärten
gesteckt. Der Wert
ihrer Liegenschaften
war mittlerweile um
ein Mehrfaches
gestiegen, sodass sie
jetzt noch leichter an
Kredite kam. Für ihr
Alter hatte sie es
schon sehr weit
gebracht – und sie war
noch längst nicht am
Ende ihres Wegs!
Lucrezia
ließ sich auf einer
steinernen Bank
nieder. Hinter ihr
glänzte im sanften
Marmorweiß eine
Diana-Skulptur, die
man kürzlich bei
Ausgrabungen in ihrer
vigna,
ihrem Weingarten auf
dem Monte Palatino,
gefunden hatte. Die
guterhaltene Figur aus
der großen Zeit
römischer Kaiser war
Gold wert, und es gab
genügend Männer, die
sie um das Kunstwerk
beneideten und es ihr
abkaufen wollten. Aber
sie verkaufte es nicht
– die nackte Göttin
der Jagd hatte es ihr
angetan. Ein leicht
gedrehter Körper, ein
erstaunter Blick, ein
feines Lächeln –
Lucrezia strich mit
ihrer Hand über den
Arm und die Wölbungen
der Hinterbacken. Sie
hatte schon zahlreiche
junge Frauen nackt
gesehen, aber so
vollkommen, so
vielversprechend
geformt wie diese
Marmorskulptur war
keine gewesen.
Mansueto legte seinen
Kopf auf ihren Fuß.
Sie streichelte ihn
und ließ ihren Blick
über das sanft
fließende Wasser
gleiten. Die Rötungen
am östlichen Himmel
färbten auch den
Fluss, über den zarte
Schleier tanzten.
Kleine Strudel drehten
sich in der Nähe des
Ufers, und der eine
oder andere
unbestimmbare
Gegenstand trieb
vorbei.
Lucrezia fröstelte.
Mansueto schaute kurz
zu ihr hoch, um sich
zu vergewissern, dass
alles in Ordnung war.
Sie schloss die Augen,
holte das kleine
goldene Kreuz hervor,
das tief und kaum
sichtbar in ihrem
Ausschnitt steckte,
und hielt es abwehrend
vor sich. Aber selbst
das Kreuz war nicht in
der Lage, sie
fernzuhalten …
Die
Dämonen der
Erinnerung.
Die
Dämonen, die sie
zurückführten in den
Mai des Jahres 1527,
als die Horden der
Eroberer durch die
Straßen Roms stürmten
und alles
niedermachten, was
sich ihnen in den Weg
stellte. Eine Orgie
aus Blut,
Schmerzensschreien und
dem Gebrüll der
entmenschten Männer.
Spanische Soldaten,
deutsche Landsknechte,
italienische Söldner
und jede Menge
Gesindel, Banditen –
habgierige, grausame
Gestalten.
Bald schon trieben im
Tiber, vom Borgo
Vaticano kommend,
grausam entstellte
Leichen, einzelne
Körperteile,
Tierkadaver vorbei und
färbten den Fluss
rötlich. Aus dem
Wasser stieg ein
stechender Gestank
nach Fäkalien, Fäulnis
und fortschreitender
Verwesung empor.
Im
Haus jetzt das gierige
Grölen der Männer, die
schrillen,
verzweifelten, kaum
noch menschlichen
Schreie der Frauen …
Da
stürzte ihre Mutter
herbei, das Gesicht
zerkratzt, Blut an den
Händen.
«Du musst
dich ans andere Ufer
retten!», schrie
sie, drückte
Lucrezia ein
ausgehöhltes Rohr in
die Hand und stieß
sie ohne weitere
Erklärung ins
Wasser. Dann rannte
sie wieder zurück.
Lucrezia sah nur
noch unscharfe
Bewegungen, schloss
die Augen, merkte
nicht einmal die
Kälte, ließ sich
treiben …
"Heute mir, morgen dir"
(schlägt die Stunde).
Eingelassene Marmortafel
an einem Haus in der
Villa Giulia, wo die
Villa Diana gestanden
haben könnte.