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Abschied von der Mutter
Fritz Gesing, Süddeutsche Zeitung, 3.11.1990

Selbst wenn unsere Mutter im hohen Alter stirbt, dauert es Jahre, bis wir bereit sind, von ihr Abschied zu nehmen. Früh hat sie uns geborgen, dann geboren, war eine leise, doch stetige Stimme im Konzert des Lebens; der Tod schließlich gibt ihrem Bild ein stärkeres Leuchten. Er glättet die Falten in ihrem Gesicht, deutet den Klang ihrer Stimme um zum poetischen Wort, ihr Blick verspricht uns wieder Trost. Die Erinnerungen verdichten sich zu Szenen, und manche dieser Szenen erschafft die Phantasie nach dem Vorbild der Erzählung.
 


 
Da sehe ich Mutter, hochschwanger, mit ihren drei Mädchen auf einem Frühlingsacker stehen, das jüngste an der Hand, mit einem weißen Taschentuch winkt sie den in einen Zug gepferchten Männern zu und entdeckt schließlich in einem der Fenster den eigenen. Einer der Bewacher wendet sich ab, sie stolpert mit den Kindern zu dem Waggon, Tränen, hilfloses Stammeln, bis sie wieder weggeschoben wird und der Zug schließlich in der Ferne verschwindet.

Ein paar Monate später, abends während der Sperrstunde, auf der Wohnzimmercouch, eine Sturzgeburt -: bevor Arzt und Hebamme erscheinen konnten, lag ihr Jüngster schon auf dem Laken und schrie.

Ich kann noch einen Schritt zurückgehen: Der Untergang eines Reiches steht bevor, keine Nacht und kein Tag ohne Bomberschwärme am Himmel, und eine schon zweiundvierzigjährige Frau fühlt sich wieder schwanger werden. Vom Mann seit Monaten keine Nachricht mehr. Vielleicht ist er tot. Da sitzt sie vor ihrem Schwager, der am Ort ein Lazarett leitet, und weint. Er aber lacht. Wo liegen die Probleme? Sie ist gesund, und das Sterben wird irgendwann aufhören. "Natürlich bekommst du das Kind!"

"Ja, du hast recht", sagt sie.

Diese Geburt teilt ihr Leben in zwei gleiche Teile, sie stirbt einen Tag, bevor sich die Geburt zum zweiundvierzigsten Male wiederholt. Aber sie nimmt nicht mehr wahr, was sich da jährt. Die erfolglosen Kämpfe gegen lebensverlängernde Maßnahmen, vor allem aber diese Maßnahmen selbst bestimmen ihr letztes Jahr. Der Schmerz hat längst die Herrschaft über sie ergriffen. Aber wenigstens eine letzte Minute der Helligkeit ist ihr vergönnt. Plötzlich schmeckt ihr wieder der Morgenkaffee, sie möchte ein Brot, will sich aufsetzen. Doch dann sinkt sie zurück.

Die Euphorie des aushauchenden Lebens hat ihr das Verlöschen leicht gemacht, dennoch ist keine Verklärung angebracht. Das Krankenhaus besitzt zwar eine Kapelle, aber keinen Raum für die Toten. Mutter wird in einer freigeräumten Garage aufgebahrt, wo ich sie, fünf Autofahrtstunden später, noch einmal sehen darf. Der Anblick einer Toten prägt sich mit einer schamlosen Nacktheit ins Gedächtnis. Die Qual des letzten Jahrs ist von ihrem Antlitz gewichen, aber die Versöhnung noch nicht wieder da.

Dabei war Versöhnung eines der Leitthemen ihres Lebens: Ausgleich, Optimismus, immer die gute Seite sehen und verstehen wollen. Das, was sie "Schicksal" nannte, wollte sie akzeptieren, und daher betrachtete sie den Tod nie als Bedrohung: Er rundet nur ab und führt zurück in eine Freiheit ohne Schmerz. Aber der Tod kennt am wenigsten von allen Mächten Gerechtigkeit, und so war ihr Ende Freiheitsberaubung mit Schmerz.

Der Abschied erfährt durch Tod und Begräbnis nur das offizielle Siegel. Er beginnt schon, bevor der Sarg, bedeckt mit letzten Blumen, sich in die Erde senkt, und endet keineswegs, wenn der Grabstein den Namen der Toten trägt.

Spätestens wenn ein Mensch, der sein Leben lang andere gepflegt hat, selbst gepflegt werden muß, wird die Abschiedsstunde eingeläutet. Eine neue Wirklichkeit zerstört den Rest an Würde: Knochenbrüche, Bluttransfusionen, Krankenhausaufenthalte, Gedächtnisschwund. Zum Schluß auch noch das endgültige Zerschlagen der Schambarrieren. Vielleicht hat Mutters langsamer Rückzug aus der sie umgebenden Wirklichkeit ihr noch einmal das Eintauchen in die goldenen Stunden ihres Lebens ermöglicht: die rauschenden Jahre nach ihrer ersten Hochzeit im Jahre 1925, die glücklichen Stunden, als sie endlich, in ihrer zweiten Ehe, Mutter wurde. Dazwischen lag die Meßlatte des Todes: Sie verlor die nächsten Menschen, unerwartet, viel zu jung und ohne die Möglichkeit des Trosts.

Vielleicht waren es gerade diese Erfahrungen, die ihren unerschütterlichen Optimismus vertieften. Ein paar Jahre lang hatte ihr Leben hauptsächlich aus Klavierspielen und Festefeiern, Kuren und Reisen bestanden, aber dann zerschlug die Wirtschaftskrise ihre bourgeoisen Attitüden, und das "Schicksal" nahm ihr den Mann. Die verarmte Witwe lernte einen Beruf und verdingte sich als Säuglingspflegerin und Kinderfrau. "Lerne leiden, ohne zu klagen", dieser Spruch hing immer eingerahmt an der Wand ihres Zimmers.

Der Mensch wird immer wieder neu geboren. Tatsächlich glaubte sie an eine nicht näher erläuterte Form der Seelenwanderung und Wiedergeburt. Sie glaubte auch an eine christliche Religiosität, die mit den Namen Albert Schweitzer verbunden ist. Viele seiner Bücher standen im Mittelteil ihres großen Mahagoni-Schrankes, der noch aus ihrer ersten Hochzeitsausstattung stammte, vor den Bücherrücken ein würdiges Bild des Denkers und Wohltäters, und daneben ein Bild von Marion Gräfin Dönhoff. Warum Mutter diese Frau so tief verehrte, konnte sie selbst nicht recht erklären. Vielleicht, weil auch die Gräfin aus einem frühen glanzvollen oder doch zumindest glücklich behüteten Leben vertrieben wurde und ein neues, tätiges Leben ganz von unten aufbauen mußte. Weil sie sich mit Worten und Gedanken, in denen sich meine Mutter wiederfand, in die Politik einmischte. Weil sie, wie ihre Bewunderin wohl meinte, ganz einfach eine tapfere Frau war.

Dies ist eins der intensivsten Erinnerungsbilder: Mutter steht vor ihrem Schrank, hinter ihr der durchdringend-gütige Blick von Albert Schweitzer. In dieses Bild weben sich die Erinnerungen aller Sinne. Nie wird ein Kind, und mag es noch so alt werden, den Geruch der eigenen Mutter vergessen, auch wenn die Muttersprache dafür keine Worte bereitstellt und der schale Kunstname eines Parfüms nur etikettieren würde, was unübersetzbar und unaufhebbar bleibt. Deutlicher schon ist ein Geschmack zu fühlen, wenn er die Zunge berührt: Aus hundert Salaten würde ich sofort denjenigen herausschmecken, den meine Mutter zubereitet hat. Saure Sahne, Dill und Petersilie, Salz und Zucker. Daran ist nichts Besonderes, auch an der Mischung nicht, und doch sehe ich Mutter sofort in ihren weißen Haaren vor mir, mit der Aufforderung: "Junge, nun iß anständig!" Kräftig, meinte sie, und vermittelte gleichzeitig: mit Anstand. Vielleicht schwang auch hier ihre Lebensphilosophie mit.

Noch deutlicher als Geruch und Geschmack ist aber der Klang. Sie trug zeit ihres von mir erinnerbaren Lebens ein Goldarmband mit Gelenken, die von schwarzem Onyx überzogenen waren, und dieses Armband klickte und klirrte ganz eigentümlich weich. Der Klang ruft sie sofort herbei. Wie sie sich zum Ausgehen bereit macht, wie sie den Arm hebt, um die Kaffeetasse zum Mund zu führen, mit der Dame Schach zu bieten oder einem ihrer Enkel über den Kopf zu streichen. Als sie dann starb und ihr Schmuck unter den Kindern verteilt wurde, wünschte ich mir dieses Armband, das, von häufigen Tragen sehr fragil geworden, nun gelegentlich den Arm meiner Frau schmückt. Wenn wir ausgehen und sie sich, zum Beispiel, in den Mantel helfen läßt, dann höre ich sie.

Endgültig und nicht mehr zu leugnen drängte ihr Sterben ins Bewußtsein, als ihre weißen Haare sich nicht mehr in Wellen legen ließen, als ihre Arme kein Armband mehr zierte, sondern von Einstichwunden und Blutergüssen entstellt waren. Am deutlichsten aber kündigte sich der Tod an, als er ihr ihren Geruch nahm. Dies geschah nicht langsam, sondern plötzlich, wenige Monate, bevor ihr Herz stillstand. Nach einem Besuch beugte ich mich zu ihr herunter und gab ihr einen Abschiedskuß: ich spürte ihre faltige Haut, fühlte ihre schwache Hand, aber ich roch sie nicht mehr. Ich roch, wie etwas Fremdes, Bedrohliches sich ihrer bemächtigt hatte, und wußte, sie würde nicht mehr lange leben.

Mit dem Begräbnis enden weder die Erinnerungen noch die inneren Bindungen. Mutter sitzt am Fenster, in ihrem hohen Sessel, und legt Patiencen. Mit geübten Griffen entfaltet sie die Kartenreihen und sinnt über Möglichkeiten einer Lösung. Oder sie macht sich an ein Puzzle mit tausend Einzelteilen. Später sitzt sie unter der Tischlampe und versucht, vertrackte Kreuzworträtsel zu lösen. Utta Danellas Romane sprechen sie besonders an, und sie schwärmt von den lebensnahen Frauenschicksalen, in denen sie sich selbst gespiegelt findet. Dann wieder werden Briefmarken eingesteckt. Am liebsten aber blättert sie in den alten Fotoalben, die sie im Lauf der Jahrzehnte angelegt hat, akribisch geordnet und sauber beschriftet. Und bevor sie dann ins Bett geht, führt sie noch ihr Tagebuch oder schreibt Briefe an alte Freundinnen, von denen nur noch wenige leben, oder an ihre Kinder. Ihre Handschrift ist rund und weich, ohne Kanten und Spitzen, ohne Schnörkel und Verzerrungen, sie ist beruhigend gleichmäßig, fast wie gedruckt, aber ohne zwanghaft oder einstudiert zu wirken. Auch in ihrer Handschrift lebt sie weiter.

Eine Mutter ist so sehr Teil des eigenen Selbst, daß ihr Tod, auch wenn er sich schon lange angekündigt hat, wie eine Amputation wirkt. Das ist ein krudes Faktum, gegen das man sich nur mit stärksten Drogen wappnen kann. Ein letzter Blick noch, bevor der Sarg endgültig verschlossen wird: Sie antwortet nicht mehr und ruft damit alle Ängste des kleinen Kindes wieder wach. Jetzt ist die Kluft am größten, in diesem Moment übermannt uns die Trauer. Doch schnell läßt das Marionettenspiel eines Begräbniszeremoniells unsere Masken erstarren, und wir brauchen Wochen und Monate, bis die Gefühlsleere sich wieder füllt und die Bilder erneut zum Vorschein kommen.

Meine Mutter bleibt für mich eine Kindermutter. Ich erinnere sie als tröstende Stimme, als sorgenvoller Blick, aber auch scheltend, mit tiefer Falte zwischen den Augen. Gar nicht so selten rutschte ihr die Hand aus, wenn der Streit zwischen den Kindern ihr heiles Weltbild strapazierte. Oder sie probte den Liebesentzug, indem sie sich schweigend und mit düsterer Schwermutsmiene abwandte. Aber lange hielt diese Stimmung nicht an. Am ehesten konnten wir sie auf unsere Seite ziehen, wenn Krankheiten uns plagten und es galt, Leid zu teilen. Dann fühlte sie sich in ihrem Element. Oder wenn sie die gute Fee spielen durfte, Weihnachten zum Beispiel. Dann zauberte sie aus dem ganzen Arsenal deutscher Heilige-Nacht-Seligkeit ein Fest, angefüllt mit Tannennadelduft, brennenden Kerzen im Widerschein der Mozartkugeln, mit Lametta und Plätzchen, Johann Sebastian Bach und familiärer Harmonie.

Söhne idealisieren gern ihre Mütter. Je älter sie werden, desto strahlender glänzt das Bild einer Heiligen, Sanftmut in den Augen und in den Armen das Kind. So kennen wir Maria, das Urbild. Aber natürlich liegt hier nur ein Teil der Wahrheit. Wie oft überbrückt die gegenseitige Liebe einen Abgrund an Leere? Kann die Mutter den Mann in ihrem Sohn verstehen, und fühlt sich dieser nicht erstickt von einer unangreifbaren Fürsorge? Und da ist natürlich auch der Vater. Ein Dreieck entsteht mit selten (oder häufig?) niedergeschriebenen Dramen an Verrat. Jeder verrät jeden, und je mehr Rollen in dem Familienstück hinzukommen, desto undurchsichtiger wird die Intrige. Mutter hat sich den Part der guten, gütigen Heldin zugelegt, und niemand wird wagen, ihn ihr streitig zu machen. Also spielen wir das Spiel, bis wir selbst daran glauben.

Wie nahe standen wir ihr wirklich? Als sie schon betagt war, wollten wir sie noch näher kennenlernen. Und sie kam uns entgegen, ein Stück. Sie erzählte uns von einem Leben, in dem sich weder Haß noch Neid noch Niedertracht ausbreiten konnten. Und immer siegte, wenigstens moralisch, das Gute. Was destruktiv war, prallte an ihr ab. Sie leugnete es nicht, widerstrebend. Aber sie behielt ihre Reinheit. Gegen das Böse kämpfte man nicht, man duldete und siegte gerade durch die Duldung. Der Schwache ist in Wahrheit der Starke. Ihn kann nichts anfechten.

Wir spürten den unerfüllbaren Anspruch und fühlten uns wie Versager. Je weniger es uns gelang, dem Maß ihrer moralischen Integrität gerecht zu werden, desto mehr hielten wir sie für weltfremd, verstrickt in ihr Glaube-Liebe-Hoffnung-Gespinst. Sie thronte über uns und verstand nicht, mit was wir uns quälten - oder zu quälen vorgaben. Wir kämpften, aber sie war schon am Ziel. Gefühle teilten sich für sie in Licht und Dunkel, und selbstverständlich umstrahlte sie ein sanftes Licht. "Freust du dich denn überhaupt, daß ich euch besuche?" fragte ich sie einmal. Sie schaute mich verständnislos an und antwortete: "Aber natürlich!" und legte dann weiter Patiencen.

Zuweilen schien in der Entfremdung die Wahrheit der Gefühle zu liegen. Aber der Tod, der endgültig trennt, kann auch zusammenführen. Nach Jahren wird die Liebe wieder vom Zweifel befreit. Das Bild der Mutter widersteht dem Vergessen, das ist ein Trost.

(1990)


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