Die Schwestern der Venus
1.Kapitel
Mit einem
Gefühl lähmender Angst schreckte
sie aus dem Schlaf. Regungslos lauschte sie, die Augen aufgerissen,
doch die
Dunkelheit im Raum blieb undurchdringlich. Neben ihr atmeten kaum
hörbar ihre
zwei Schwestern. Vom Zimmer ihrer Eltern drangen ein tiefer Seufzer und
das
Schnarchen ihres Vaters herüber. Sonst war es still. Warum sie
aufgewacht war,
wusste sie nicht, und warum die lähmende Angst sie überfallen
hatte, noch
weniger. Lauschte sie genauer, hörte sie ein untergründiges
Rauschen, ein kaum
auslotbares Geräusch, das sie nicht zum ersten Mal wahrnahm. Es
hatte sie
bisher nie beunruhigt, da Venedig auf Wasser stand, auf Tausenden von
Eichenpfählen, durchzogen war von Kanälen – nein, da musste
etwas anderes
gewesen sein ...
Francesca Ordeaschi, die lebenslustige und aufgeweckte
Tochter des Krämers Ludovico Ordeaschi und seiner Frau Anna Maria,
setzte sich
kurz auf und ließ ihren Nacken dann wieder auf die Kissenrolle
fallen. Sie
fröstelte, der März des Jahres 1511 war kühl und
regnerisch, die Stadt ächzte
unter den Folgen des Krieges gegen die Liga von Cambrai, die
Geschäfte gingen
schlecht, sehr schlecht sogar, wie Francescas Vater täglich mit
düsterer Stimme
berichtete, er wisse nicht mehr, die nimmersatten Mäuler seiner
Familie zu
ernähren ...
Plötzlich ein tiefes, fernes Rumpeln, begleitet von einem
Knirschen und einem lauten Knacken, als stünden Holzbalken direkt
vor dem
Brechen.
Francesca flüsterte die Namen ihrer Schwestern. Auch sie
waren wach. »Was ist das?« fragte Caterina, die
Ältere. »Ich habe Angst«,
jammerte Camilla, die Jüngere. Der Vater schnarchte noch immer,
aber die Mutter
hatte ein Talglicht angezündet, man sah einen schwachen
Lichtschein unter dem
Türspalt hervorquellen.
Vorsichtig schob Francesca ihre Füße aus dem Bett und
tastete sich zur Tür, öffnete sie. Mit wirren Haaren stand
ihre Mutter in ihrem
weißen Nachtkleid vor ihr, wie ein Gespenst.
»Was ist mit dir, kannst du nicht schlafen?« fragte sie
verärgert. »Das Schnarchen deines Vaters raubt mir den
Schlaf ...«
»Da war ein seltsames Geräusch ...«, flüsterte
Francesca.
»Du hast schlecht geträumt. Geh zurück ins Bett!«
Das Muttergespenst schwebte zu den Schwestern, die ihr die
Arme entgegenstreckten, setzte sich zu ihnen, strich ihnen beruhigend
über den
Kopf, beachtete Francesca nicht weiter.
Und wieder das Rumpeln, diesmal lauter! Zugleich
spürte Francesca ein Zittern an ihren nackten Füßen,
dann bewegte sich der
Boden schwindelerregend. Die Mutter schrie auf, Caterina und Camilla
klammerten
sich an sie, der Vater fuhr aus seinem Schnarchen hoch, und aus dem
schmalen
Kabuff nebenan hörte Francesca ihren kleinen Bruder aufweinen.
Noch bevor sie etwas sagen konnte, brach es über sie herein.
Zuerst ein ungeheures Poltern, Knirschen, Brechen, wie aus
den Tiefen der Hölle aufsteigend, begleitet von einem erneuten
Zittern des
Bodens, des ganzen Hauses, plötzlich schwankten Decken und
Wände, und wie von
Geisterhand gezogen, erschien ein schwarzer Riss quer über der
Tür.
Die Mutter ließ das Talglicht fallen. Francesca hob es
blitzschnell auf, bevor es erlosch, und stürzte die Treppe
hinunter. Sie wollte
ins Freie, wollte nicht begraben werden unter dem einstürzenden
Haus, den
schweren Balken, oder eingeschlossen, während sich Feuer
ausbreitete, bei
lebendem Leib verbrennen ... und wieder ein Stoß, diesmal kurz
und heftig,
gefolgt von einem Krachen, Scheppern und Rattern, und erneut das tiefe
Rumpeln,
überlagert von klatschenden Geräuschen, die Becher und das
einzige Muranoglas,
das ihr Vater besaß, fielen von den Borden, Zinnteller
schepperten zu Boden ...
»Nur raus hier!« hörte sie den Vater schreien, die
Mutter
rief nach Licht, und wieder ein Stoß, der so stark war, dass
Francesca beinahe
gefallen wäre. Auf der Gasse gellende Schreie und Rufen, ein
Aufheulen, dem ein
ungeheures Krachen folgte, als wäre das Haus nebenan
eingestürzt, und dann
tierisches Schmerzgebrüll.
Sie riss die Tür auf, die ins Freie führte, stürzte auf
die
Gasse. Über ihr stand der fast volle Mond am Himmel, unter ihm die
Schornsteine
mit ihren trichterförmigen Öffnungen, wie aufgerissene
Münder, wankend, wie
Baumstämme im Sturm, und nicht nur die Schornsteine wankten, die
Häuser wankten
wie betrunken, und vor ihr prasselten ganze Ladungen von Dachziegeln
aufs
Pflaster und zersplitterten in tausend Geschosse.
Francesca schaute sich nach ihrer Familie um, doch da sie
niemand sah, rannte sie los, sprang über die Scherben, hielt
geistesgegenwärtig
ihre Hände über den Kopf, lief zickzack von der einen zur
anderen Seite, stieß
mit einem Nachbarn zusammen, der wie ein Ochse brüllte, er sank
nieder, seine
junge Frau versuchte ihn zu halten, über sein Gesicht lief Blut,
in ein Auge
hinein, die Nase entlang und in den Mund, er spie es aus und
röchelte.
Als Francesca den Campo San Martino erreichte, hörte sie aus
dem Krachen, Poltern, Beben und Knirschen heraus die Glocken: Alle
Glocken der
Stadt begannen gleichzeitig zu läuten, zu dröhnen, zu warnen
vor dem Verderben,
vor dem endgültigen Untergang der Stadt, die zusammenbrach und im
Meer zu
versinken drohte.
Trat jetzt ein, wovor die Wanderprediger seit Monaten auf
allen Plätzen Venedigs mit heiseren Stimmen gewarnt hatten? Der
Vater
berichtete täglich von ihren fanatischen Predigten gegen das
sündige Treiben in
der Stadt. Sie selbst durfte nur zum Besuch der Kirche, ihrer
Nonnenschule und
in Begleitung ihrer Mutter auf die Straße, selten mit dem Vater
zu seinen Geschäften,
es ging um Sittsamkeit und Gefährdung. Dennoch stahl sie sich
gelegentlich
allein aus dem Haus, in ärmlicher Kleidung wie eine Bettlerin und
nicht ohne
ihr Gesicht zu beschmutzen, huschte neugierig durch die Gassen und
über die
Kanäle, beobachtete die Menschen, lauschte verstohlen ihren
Unterhaltungen und
genoss dabei den Kitzel des verbotenen Abenteuers.
Und wieder ein Erdstoß, tausendfaches Schreien, die Fassade
der Chiesa San Martino wankte, der Heilige neigte sich von seinem
Sockel und
fiel, zuerst langsam, dann immer rascher und zerschmetterte einen Mann.
Blut
spritzte, der Kopf des Heiligen rollte über das Pflaster bis zu
dem Brunnen in
der Mitte des Campo.
Francesca rannte weiter, über den Ponte dei Penini, folgte
den Menschentrauben, die alle zum Kai von San Marco zu drängen
schienen.
Tatsächlich tauchte plötzlich das schwarze Wasser der Lagune
vor ihr auf, wild
taumelten Boote und Gondeln in der Nähe des Ufers, ihre nassen
Füße schmerzten,
und bevor sie sich versah, warf eine Welle sie um. Ihr Schrei ging im
Gurgeln
unter, sie strampelte und schlug um sich, kämpfte gegen das an
Land flutende
Wasser, bis sie mühsam Halt fand, sich aufrichten wollte, und
wieder riss ihr
das zurückströmende Wasser die Füße vom Boden ...
Zwei Hände griffen nach ihr, hielten sie fest. Sie schaute
in das nasse Gesicht eines Mannes, der so alt war wie ihr Vater,
vornehm
gekleidet, mit einem seidenen, gefütterten Mantel und einem roten
Barett auf
dem Kopf – mit letzter Kraft klammerte sie sich an ihn.
Der Mann sagte etwas Beruhigendes, sie verstand ihn nicht,
nur die sanfte, weiche Stimme hob sich ab vom Geschrei um sie herum. Er
stützte
sie, trug sie, dann wankte erneut der Boden, so dass der Mann mit ihr
fast
umgefallen wäre, das Wasser schwappte hoch, spritzte und gurgelte,
und wie auf
Befehl verstummten alle Glocken der Stadt.
Die Menschen verstummten ebenfalls, als erwarteten sie, dass
Gott zu ihnen spräche.
Noch einmal ein tiefes Grummeln, eine Säule krachte vor
ihnen auf den Boden – nun schrien die Menschen wieder, riefen um Hilfe,
manche
rissen die Arme hoch, andere sackten einfach um. Überall lagen
Tote in ihrem
Blut, Verletzte, halb im Wasser, krochen über den Boden. Flammen
leckten aus
mehreren Fenstern, begleitet von aufbauschenden Wolken aus Rauch, der
auch aus
den Gassen quoll, in die Höhe schoss, den Mond verdunkelte und ihr
den Atem
nahm.
Dann nur noch Schwärze.
Als Francesca aus
der Ohnmacht
aufwachte, spürte sie ein sanftes Schaukeln. Ihr Kopf lag im
Schoß des Mannes,
der sie gehalten hatte. Sie befanden sich in einer Gondel, umgeben von
anderen
Gondeln, die sich alle auf dem Canale San Marco von der Kaimauer
entfernt
hatten, so dass sie keine herabstürzenden Teile erreichen konnten.
Der
Dogenpalast schien im Wirbel der Rauchschwaden zu tanzen, der Campanile
neben
ihm, dunkel gegen den Feuerschein abgesetzt, reckte sich wie eine
drohende
Faust in den Himmel. Den Mond konnte sie nicht mehr entdecken. Aus
einem
Palazzo in der Nähe des Dogenpalasts züngelten kleine
Flammen, in einem Fenster
waren Teile der tragenden Fassadensäulen eingeknickt.
Francesca musste husten, weil bissige Rauchschwaden über das
Wasser zogen und ihr den Atem nahmen. Dann schielte sie nach oben, zu
ihrem
Retter, unter dessen Barett angegraute Haare hervorquollen. Eine
scharfgeschnittene, überaus kräftige Adlernase harkte das
Gesicht in zwei
Teile, aber die großen, blassblauen Augen lagen sanft und
beruhigend auf ihr,
der Mund lächelte freundlich – zumindest schien es ihr so im
flackernden, aber
schwachen und rauchgeschwängerten Licht.
Er strich ihr übers Gesicht, flüsterte: »Du bist in
Sicherheit, ich konnte uns retten. Ein schweres Erdbeben ...«
Er musste husten, wie auch der Gondoliere, der mühsam das
schaukelnde Boot zwischen anderen Booten hindurchzulavieren versuchte.
Sie erwiderte sein Lächeln, richtete sich auf. Als sie nach
ihren brennenden Füßen schaute, bemerkte sie, dass sie
notdürftig mit einem
blutdurchtränkten Tuch umwickelt waren. Sie erinnerte sich jetzt,
dass sie
barfuß aus dem Haus gestürzt war. Ihr Retter hatte ihren
Blick wahrgenommen und
sagte: »Deine Fußsohlen sind von Schnittwunden
übersät. Hast du Schmerzen?«
Sie schüttelte den Kopf, bewegte ihre Gelenke. Sonst schien
sie unverletzt zu sein. Vorsichtig setzte sie sich auf die weiche Bank,
dem
Mann gegenüber, musterte ihn forschend. Dies durfte sich, wie ihr
sofort
einfiel, ein junges Mädchen nicht erlauben; doch in diesem
Augenblick war ihr
gleichgültig, was die strenge Mutter ihr beigebracht hatte.
Der Mann lächelte sie an, und sie lächelte zurück.
»Ihr habt mich gerettet«, flüsterte sie.
»Ich glaube schon«, antwortete er, noch immer lächelnd.
Dann schaute sie sich um und versuchte sich zu
besinnen: Venedig war nicht im Orkus versunken, nicht in die Hölle
hinabgerissen worden, nicht vom Meer überspült – ein Erdbeben
hatte es
heimgesucht, in diesem trüben und kalten März, in Zeiten, in
denen gierige und
gewaltbereite Männer wie hungrige Wölfe nach Beute suchten,
ausgemergelte
Kinder den Passanten ihre skelettdürren Finger entgegenstreckten,
in denen
Bettler wie Aasfliegen auf jedes edle Gewand flogen und aufgedunsene
Tote
morgens durch die Kanäle trieben. Ihr Vater berichtete immer
wieder davon, wenn
er verbittert nach Hause kam, weil er wieder nichts verkauft hatte,
wenn er,
der sonst so sanft war, auf alle Gauner der Stadt fluchte, auf das
Geschmeiß
des Adels, der noch immer Feste feiere, als stünde Venedig nicht
das Wasser am
Hals, auf die blutsaugerischen Geldverleiher, auf Krieg und Papst, auf
den
französischen König, auf Kaiser Maximilian, den Sultan und
die ganze Welt.
Erst gestern war es zu einem solchen Ausbruch gekommen. Nach
einer Weile fiel sein Poltern und Fluchen in sich zusammen, verpuffte
im trüben
Schweigen. Er ließ sich auf die Holzbank der Küche fallen,
verbarg sein
Gesicht. Nun baute sich die Mutter vor ihm auf, die Arme in die Seite
gestemmt,
und fuhr ihn an, er solle sich nicht so gehen lassen, solle arbeiten
und
kämpfen und Geld verdienen. »Wenn du nicht so viel Geld an
deine Huren
vergeudet hättest, ginge es uns heute besser.«
Er schaute müde auf. »Was verstehst du schon von
Geschäften«, stieß er verächtlich aus und zog
Francesca, die neben ihm stand,
an sich heran.
Dies schien die Mutter noch wütender zu machen. »Ja, du und
dein Herzchen! Eines Tages werde ich gehen, und dann sieh zu, wie du
dich und
deine Lieblingstochter ernährst! Vielleicht wird sie dich
sogar
ernähren!«
Der Vater ließ Francesca los, stand auf und machte eine
Bewegung, als wollte er die Mutter ohrfeigen. Mit einem
verächtlichen Laut gab
sie ihm einen Stoß, schnappte sich ihren weinenden Jüngsten
und verzog sich.
Die Eltern stritten oft, aber dann hörte Francesca abends
auch wieder das Bettgestell im Nebenraum knarzen, die Mutter kicherte,
der
Vater stöhnte, die Knarzgeräusche wurden
regelmäßiger und heftiger, die Mutter
stieß einen kurzen Schrei aus, unterdrückte den
nächsten. Francesca konnte
nicht einschlafen, wenn ihre Eltern sich liebten. Sie fühlte
selbst ein Ziehen
und Drängen, ein süßes, feuchtes Sehnen, ihre Hand
wanderte an Stellen, an
denen sie nichts zu suchen hatte, und diese Sünde, die sie nicht
einmal zu
beichten wagte, quälte sie. Aber dann fragte sie sich doch, wie es
wäre, wenn
ein schöner junger Mann – sie presste die Augenlider zusammen –
zwischen ihre
Schenkel glitte ... Der junge Maler aus der Nachbarschaft zum Beispiel,
von dem
sie nicht einmal den Namen kannte. Er hatte ihr einmal zugewinkt, als
sie an
einem heißen Tag auf der Fensterbank eine frische Meeresbrise
genoss und sich
dabei die Haare auskämmte. Zuerst hatte sie sein Winken betont
übersehen, doch
als er einen Stift in die Hand nahm und auf ein Stück Karton etwas
zeichnete,
hatte sie sich empört abwenden wollen. Dann blieb sie aber trotzig
sitzen,
lächelte ihm sogar zu.
Francesca wurde wieder in die Gegenwart zurückgerissen, als
eine andere Gondel unsanft an ihre stieß und die beiden
Gondoliere sich mit
rüden Worten beschimpften. Noch immer brannten zahlreiche
Häuser, auch hörte
sie ein lautes Krachen, als das beschädigte Haus in der Nähe
des Dogenpalast
zuerst ein wenig nach unten sackte und dann langsam, schließlich
immer
schneller in sich zusammenstürzte. Ein vielstimmiger Aufschrei
folgte.
Der Palazzo am Ufer war jetzt lediglich ein in Rauch und
Staub verhüllter Steinhaufen.
Francesca schien alles albtraumhaft, unwirklich – sie hockte
auf dem weichen Sitz einer Gondel, und vor ihr saß dieser
vornehme Mann in
seiner kostbaren Kleidung, betrachtete sie unverwandt aus seinem
milden,
lebendigen Augen.
»Wen habe ich da retten dürfen?« fragte er, so ruhig,
als
sei das ganze Erdbeben mit all seinen Toten und Bränden und
schreienden
Menschen nichts als ein übermütiges Karnevalsvergnügen.
»Ich heiße Francesca«, antwortete sie errötend,
»Francesca
Ordeaschi, mein Vater ist ein Händler, wir wohnen am Rande des
Sestiere
Castello.«
»Dann verbindet uns etwas«, antwortete ihr Retter.
»Auch ich
bin Händler, verleihe zudem ein wenig Geld. Mein Name ist Agostino
Chigi, und
ich komme aus Rom.«