Hechelnd verharrte das Tier, blutigen Schaum vor
dem Maul. Jean
Maynier spannte den Bogen, bis er zu brechen drohte.
Seit Tagen schon jagte er den Keiler quer durch
den Luberon, diesmal gab es für ihn kein
Entrinnen mehr. Der Pfeil schwirrte von der Sehne,
aber zu spät, einen Augenblick zu spät
hatte er losgelassen. Der Keiler griff ihn an,
der Pfeil steckte im Widerrist. Jean Maynier warf
den Bogen zur Seite und riß den Sauspieß
an sich, wollte ihn gegen das heranrennende Tier
richten, reagierte aber zu spät, er konnte
sich nur noch zur Seite werfen, gerade noch rechtzeitig.
Einen winzigen Augenblick verharrte er Auge in
Auge mit diesem schwarzen, wutschnaubenden Abgesandten
des Teufels, dann hetzte der Keiler an ihm vorbei
und entkam ins Dickicht.
Keuchend
richtete Jean Maynier sich auf, starrte auf die
zerknickten Zweige und stieß einen wilden
Fluch aus. Auf dem Boden die Blutspur. Schweiß
rann ihm in die Augen. Benommen betrachtete er
die blutenden Kratzer an Armen und Beinen, fühlte
aber keinen Schmerz. Aufbrüllend griff er
nach dem Spieß und rammte ihn in den nächsten
Baumstamm. Aber es nützte nichts, er hatte
den Keiler nicht töten können, obwohl
er ihn in seiner Jagdgier bis zur Erschöpfung
verfolgt hatte. Daß der Keiler jetzt langsam
verenden würde, irgendwo in einem Dornengestrüpp
versteckt, mit zwei Pfeilen im Rücken, war
nichts als Schmach und Erniedrigung für ihn,
den Jäger.
Jean
Maynier hob den Bogen auf, zog den Spieß
aus dem Baumstamm und stapfte, die Hunde im Schlepptau,
zu seinem Rappen, der nicht weit entfernt ruhig
graste. Noch immer rann ihm der Schweiß
übers Gesicht, und Durst plagte ihn. Er schwang
sich in den Sattel und gab dem Pferd die Sporen.
Nach
einem kurzen Ritt durch das Vallon du Châtaignier
näherte er sich zwei großen grauen
Felsbrocken, zwischen denen ein schmaler Pfad
hinabführte einem im Wald versteckten Weiher.
Vor längerer Zeit schon hatte er ihn gemeinsam
mit seinem Jagdgenossen, Kommilitonen und Freund
Raymond d'Agoult entdeckt, und seitdem suchte
er ihn immer wieder auf, wenn er nach der Jagd
Erfrischung oder auch nur Ruhe zum Nachdenken
brauchte. Obwohl er einen halben Tagesritt von
seinem Heimatort Oppède entfernt auf dem
Gebiet der Agoults lag, in der Nähe von Lourmarin,
war er sein Lieblingsort im ganzen Gebirgszug
des Luberon geworden. Doch hatte er hier seit
der gemeinsamen Entdeckung nie mehr eine Person
aus der Familie der Agoults getroffen, auch nicht
seinen Freund.
Zur
Zeit war dies sowieso unmöglich, weil Raymond
als schwerbewaffneter Ritter, in voller Rüstung
und begleitet von einem guttrainierten Fußtrupp,
mit dem König nach Italien zog, um Mailand
zu erobern. Ja, im Gegensatz zu ihm war Raymond
in der Lage, sich einen solchen Aufwand zu leisten.
Als junger Herr von Lourmarin war er reich und
konnte darauf hoffen, von François, dem
jungen König, mit dem er eine Weile gemeinsam
aufgezogen worden war, ein lukratives Amt zu erhalten
und Ländereien, vielleicht sogar in dem kultivierten
Italien, von dem alle schwärmten.
Jean
Maynier band sein Pferd an einen Baum, riß
sich seine Jagdkleidung vom Leib und stürzte
sich ins Wasser. Ein paar Schwimmzüge lang
tauchte er unter, schwamm dann prustend bis zum
anderen Ufer und paddelte anschließend gemächlich
zurück. Über ihm der Himmel in einem
klaren Blau, die große Kastanie streckte
ihre Äste weit ins flirrende Licht. Erfrischt
von der Abkühlung, fühlte er seine Kräfte
zurückkehren. Und auch die Wut verschwand.
Niemand wußte von seiner Niederlage, zu
beichten gab es nichts. Beim nächsten Keiler
würde er nicht mehr zögern, er würde
seinen Spieß ihm bis ins Herz rammen und
ihn zur Hölle schicken, ohne Gnade.
Er
ließ sich auf dem Wasser treiben und genoß
die weiche Stimmung des späten Nachmittags.
Er fühlte wieder die Stärke seiner zwanzig
Jahre. Zwar konnte er sich nicht mit der Eleganz
Raymonds messen, aber an Kraft übertraf er
ihn bei weitem. Einmal hatte ihm Raymond seinen
Harnisch leihen wollen. Es war ihm nicht gelungen,
ihn anzulegen, weder Schultern noch Brust ließen
sich hineinpressen.
"Du
hast eine Brust wie ein Stier", hatte Raymond
bewundernd bemerkt, aber dann noch angefügt:
"Bietest aber auch den Lanzen des Gegners
ein größeres Ziel." Und dann hatte
er gelacht.
Plötzlich
hörte Jean Maynier vom anderen Ufer her ein
Knacken. Er wagte kaum zu atmen, ließ sich
langsam unter einen überhängenden Zweig
treiben. Vielleicht doch noch unvermutetes Jagdglück?
Nein, Stimmen drangen herüber, weibliche
Stimmen, von Beerensammlerinnen wahrscheinlich,
Frauen und Mädchen aus den Dörfern der
Agoults, die sich bis hierhin verirrt hatten.
Auf den Wegen und an den Feldrändern begegnete
er ihnen gelegentlich, aber selten blickte er
in freundliche Gesichter. Schuldbewußt beugten
sie ihr Haupt oder wandten sich ängstlich
ab, - als hätte er den bösen Blick,
als wollte er sie ins nächste Gebüsch
zerren wie ein ausgehungerter Landsknecht, als
wäre er einer von dem Raubrittergesindel
aus den Bergen der Montagne de Lure, er, Jean
Maynier, Baron d'Oppède, der Sohn des viel
zu früh verstorbenen Accurse Maynier, des
päpstlichen Gesandten in Venedig! Diese armseligen
Waldenser, die auf verlauste Wanderprediger hörten,
auf ketzerische Heimlichtuer, sie drehten ihm
dem Rücken zu, bückten sich, als wollten
sie etwas aufheben, er kannte sie, die Vollkommenen,
die sich über andere Menschen erhaben fühlten
...
Helles,
fröhliches Lachen! Durch das Unterholz brach
eine Gruppe junger Mädchen in langen luftigen
Gewändern, sie umringten eine Frau von siebzehn
oder achtzehn Jahren, die sich nun die Spangen
aus ihrem braunen Haar nahm. Lockig fiel es ihr
über die Schultern. Ein Mädchen griff
nach einer Schlaufe, ein anderes öffnete
den Gürtel, sie streiften ihr tatsächlich
das Kleid ab, die Riemen an den Sandalen wurden
gelöst. Nun stand sie nackt am Ufer. Alle
kicherten sie und schauten sich vorsichtig um,
streiften ebenfalls ihre Kleider ab. Die junge
Frau fuhr mit ihren Händen in ihre Haare,
schüttelte lustvoll den Kopf, und die Mähne
legte sich über Rücken und Brust.
Jean
Maynier hielt die Luft an und drückte sich
noch tiefer unter die Zweige. Er schielte nach
seinen Pferd, das zum Glück hinter einem
Baum graste, und zischte den Hunden zu, auf ihrem
Platz zu bleiben. Aufrecht saßen sie auf
ihren Hinterpfoten und beobachteten genau, was
sich am gegenüberliegenden Ufer abspielte.
Die
Nacktheit blendete ihn. Ein Teil der Mädchen
plantschte schon im Wasser, nur die Herrin stand
noch, ein Bein leicht angewinkelt. Ihm war inzwischen
klar, wer ihn so blendete: Madeleine d'Agoult,
Raymonds Schwester, die schöne Madeleine,
wie jeder sie nannte, die Großnichte des
Marschalls von Trivulce und künftige Erbin
von Cental. Mit ihrem Bruder gehörte sie
zu einer der reichen Adelsfamilien, die die Fremden
aus dem Piemont hergerufen hatten, das Waldenserpack,
diese häretische Pest.
Einmal,
als er mit Raymond von der Jagd zurückgekehrt
war nach Lourmarin, hatte er Madeleine über
den Hof huschen sehen. Später stellte Raymond
sie ihm vor, und er durfte mit ihr ein paar Worte
wechseln. Damals war sie noch jünger, eine
Rosenknospe, aber heute war sie voll erblüht,
eine Frau, die auf ihre Bestimmung wartete.
Vorsichtig
steckte sie ihren Zeh ins Wasser und sprang zurück,
als ihre Dienerinnen sie naßspritzen wollten.
Jean
Maynier, gefangen von dem Anblick, suchte nach
Worten für ihre Schönheit: Wie die Morgenröte
brachte sie Licht in das Dunkel des Waldes, ihr
Leib wie Elfenbein, die Haut wie Pfirsich, und
Taubenaugen, runde, weiche Hüften hatte sie,
die festen Schenkel von Susanna, von Bathseba,
Brüste wie die Zwillinge der Gazellen ...
Er suchte nach weiteren Vergleichen, fand keine.
Eine Göttin war sie, Diana ...
Madeleine
stürzte sich nun in den Weiher, juchzte auf,
das Geplätscher und helle Lachen verstärkten
sich.
Was
sollte er tun, wenn die Hunde anschlugen? Sollte
er aus dem Wasser steigen, nackt wie Adam, und
die schöne Madeleine bis auf den Tod erschrecken?
Würde sie aufschreien, fliehen, ihn verfluchen?
Würde sie sich rächen wollen und ihm
ihren Bruder auf den Hals hetzen? Nein, den Bruder
sicher nicht, denn er marschierte zur Zeit auf
Mailand zu. Vielleicht ihren Cousin Louis?
Jean
Maynier mußte ein Auflachen unterdrücken.
Louis de Bouliers, wie er selbst Studiosus in
Aix, war zwar Herr über La Tour d'Aigues
und reiche Ländereien im fruchtbaren Süden
des Luberon, aber als Frauenrächer denkbar
ungeeignet. Wenn er wollte, könnte er Louis
mit einem Schlag zu Boden strecken. Woran er aber
nicht dachte, denn als Waffenbrüder des Geistes
hockten sie gemeinsam in den juristischen Vorlesungen,
repetierten abends ihre Skripte und gingen anschließend
noch einen Becher Wein trinken in der Weißen
Lilie. Vergnügten sich sogar gemeinsam im
Badehaus der Rue Saint Jacques. Louis war kein
Kämpfer, aber ein netter Kumpan. Genauso
wie der meist fröhliche Raymond ein netter
Kumpan war und sich zum Beispiel nie damit brüstete,
daß die Grafen d'Agoult seit Jahrhunderten
in der Provence ansässig waren und geholfen
hatten, sie von den Sarazenen zu befreien - uraltes
Blut im Vergleich zum Blut seiner Familie, die
die Baronie von Oppède erst von Papst Alexander
VI. erhalten hatte.
Die
Mädchen stiegen wieder aus dem Wasser. Die
schöne Madeleine wurde sorgsam abgetrocknet.
Sie setzte sich auf einen Baumstamm, und eine
ihrer Gespielinnen reinigte ihre Füße,
eine andere kämmte die nassen Locken. Die
nackten Körper wurden nun wieder von den
Gewändern bedeckt, die Haare hochgesteckt,
Zöpfe geflochten, und das lustige Geschnatter
und Gekicher hörte nicht auf. Jean Maynier
merkte, wie ihm kalt wurde, aber er wagte sich
nicht zu rühren. Niemand durfte ihn entdecken,
das Geheimnis dieser süßen Augenweide
mußte er für sich behalten. Die schöne
Madeleine. Die reiche Madeleine. Madeleine und
Jean Maynier. Madeleine Maynier, Baronesse d'Oppède.
Die Mutter vieler Söhne. Die Gattin des Herrschers
über den Luberon. Mochten seine Eltern auch
nicht mehr leben, seine Studien beider Rechte
machten Fortschritte, die Professoren betrachteten
wohlwollend seine Leistungen, er war nicht nur
stärker als der mickrig geratene Louis, sondern
lernte auch schneller. Vielleicht würde er
später einmal die lange Robe anziehen und
Recht sprechen am Obersten Gerichtshof der Provence.
Oder in der kurzen Robe einer der Heerführer
des Königs werden.
Zwischen
seinen Brauen bildete sich eine tiefe Falte. Er,
dessen Schwerthieb einen Baumstamm durchtrennte,
der sein Pferd beherrschte wie kein zweiter und
mit der Lanze jeden Gegner aus dem Sattel gehoben
hätte, er hatte als Ritter dem König
nicht nach Italien folgen können, um sich
dort zu bewähren und Ruhm zu ernten. Und
trotzdem würde ihm die Zukunft offenstehen.
Sie mußte ihm offenstehen! Warum sollte
er also nicht die schöne Madeleine begehren?
Er
konnte sich nicht sattsehen an den langen, weichen
Haaren, an dem heiteren Gesicht, an der glatten
Haut. Eine solche Frau mußte gesunde Söhne
gebären. Und mußte, auch wenn dies
vor Gott vielleicht nicht wohlgefällig war,
im Bett Freude bereiten. Heiratete er sie, wäre
er Raymonds Schwager und angeheirateter Cousin
von Louis - sie wären die drei Brüder
aus dem Luberon und stark in ihrer Gemeinsamkeit.
Der eine würde Erster Präsident des
Obersten Gerichtshofs von Paris, der andere Konnetabel,
oberster Heerführer, und der dritte Kanzler
von Frankreich. Die Triumvirn aus dem Luberon
würden das Königreich beherrschen!
Sein
Körper zitterte inzwischen vor Kälte,
und die Hunde begannen, leise zu jaulen. Der Rappe
rupfte ungerührt die Gräser am Rande
des Wassers. Am gegenüberliegenden Ufer war
es ruhiger geworden. Er sah die fröhlichen
Mädchen nicht mehr, hörte sie aber noch
im Walde tollen.
Endlich
konnte er das Wasser verlassen.
Er
schob seinen Körper zum Ufer und mußte
sich der Hunde erwehren, die an ihm hochsprangen.
Schnell schlüpfte er in seine Kleider. Er
merkte erst jetzt, wie zerrissen und schmutzig
sein Jagdkittel war. Als er sich aufs Pferd schwingen
sollte, warf er noch einmal einen Blick zum anderen
Ufer hinüber.
Da
stand sie plötzlich, die schöne Madeleine,
die Göttin, stand allein zwischen zwei mächtigen
Baumstämmen, ihr bis zum Boden reichendes
Gewand unter dem Busen zusammengebunden, die Haare
hochgesteckt, die Arme frei - und schaute zu ihm
herüber. Sein Atem stockte.
Kurz
hob sie die Hand und verschwand im Dunkel des
Waldes.
Sie
hatte ihn gegrüßt, sie hatte ihm gewunken!
Daran gab es keinen Zweifel. Und hatte sie ihn
erkannt? Sie mußte ihn erkannt haben, den
Freund ihres Bruders. Aber sie mußte ihn
auch ohne Kleidung gesehen haben. Triefend vor
Nässe, mit haariger Brust und ohne Lendenschurz.
Sie waren sich, wie das erste Menschenpaar, nackt
begegnet, im paradiesischen Zustand, und hatten
einander erkannt!
Jean
Maynier stand neben seinem Pferd, er starrte auf
den dunklen Schatten des Waldes, in dem Madeleine
verschwunden war, und wußte, er war seiner
Liebe, seinem Schicksal begegnet.
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