Es
war nicht das erste Mal, daß ich die Gewölbe
und Verliese, die Gänge und Kammern der Engelsburg
durchwanderte, immer auf der Suche nach Zeichen,
die in die Vergangenheit führen, in bisher
Verborgenes, Verstecktes ...
D er Führer räusperte sich bedeutend
und schloß eine schwere Eisentür auf.
»Wir verlassen jetzt die Räumlichkeiten,
die den normalen Besuchern zugänglich sind.«
Hinab
ging es durch dunkle Gänge. Es roch muffig,
nach Moder und Verwesung, nach jahrhundertealten
Seufzern und verlorenem Stöhnen. Giovanni
del Drago begann ein Liedchen zu pfeifen. Vor
uns tanzte der Lichtkegel der starken Taschenlampe,
mit der unser Führer den Weg in die Unterwelt
zu beleben versuchte.
»Es
gibt Verliese, die in Katakombentiefe liegen.
Manche wurden später zugeschüttet, um
die Erinnerung an die Menschen, die hier einen
qualvollen Tod fanden, zu ersticken. Aber wer
feine Ohren hat, kann noch immer ihre Schreie
hören.«
Er
öffnete eine knarrende Tür und ließ
Licht in das feuchte Dunkel einer Kerkerkammer
fallen. Drei magere Ratten huschten aufgescheucht
über den staubigen Boden und schienen sich
in Nichts aufzulösen.
»Hier
lag und litt sie, Marozia, die Tochter des Theophylactus
und der Theodora, die Herrscherin Roms und heimliche
Päpstin, hier, an diesem Ort von Finsternis
und Elend.« Seine Stimme bebte. Ich weiß
nicht, ob aus Mitleid oder heimlicher Bewunderung.
Der
Lichtkegel seiner Taschenlampe glitt langsam über
die schwarzglänzenden Wände aus schweren
Quadern.
»Nur
ich weiß, daß sie Spuren auch in dieser
Gruft hinterlassen hat hier!«
Mit
einer emphatischen Bewegung wies der Führer
auf eingeritzte Zeichen in der Wand. Ich trat
näher. Es waren griechische Buchstaben, schwer
erkennbar unter dem Schimmel der Jahrhunderte:
,
las ich, ataraxia, ein Wort des altgriechischen
Philosophen Epikur, das meist mit Seelenruhe übersetzt
wird. In dieser Umgebung erschien es mir wie ein
höhnischer Kommentar.
Auch
Fürst del Drago näherte sich der Wand,
schaute über seinen Brillenrand und studierte
die Buchstaben.
»Daß
Marozia Griechisch beherrschte, ist unwahrscheinlich.
Vermutlich wich ihr eine treue Sklavin in den
schwersten Stunden nicht von der Seite.«
Der Führer flüsterte nur noch. »Achten
Sie auf das Echo der Stimmen: Wie flehende Geister
rufen sie nach uns.«
Fürst
del Drago lachte kurz auf. »Sie hieß
Aglaia, war eine gelehrte Griechin, kam aus dem
byzantinischen Reich ...«
»Wer?«
fragte der Führer leicht verwirrt.
»Marozias
Sklavin. Ataraxia anzustreben war das Motto ihres
tapferen Lebens. Die beiden Frauen müssen
hier tatsächlich ...«
»...
eingegangen sein in das Höllenreich, verleumdet
von der Nachwelt, die sich auf das Buch der Vergeltung
des Bischofs Liutprand von Cremona stützt?«
»Richtig,
auf das Werk eines voreingenommenen, geschwätzigen
Frauenhassers.«
Der
Führer stand bereits in der Tür, sorgsam
jeden Kontakt mit den schmierigen Wänden
vermeidend. »Habe ich Ihnen zu viel versprochen?«
»Nein,
das griechische Wort ist der Beweis.«
»Im
Vatikan will man nicht mehr an Marozia, ihre Mutter
Theodora und die mörderischen Päpste
der damaligen Zeit erinnert werden. Aus
dem zehnten Jahrhundert, dem saeculum obscurum,
gibt es keine neuen Quellen, behauptet der
Archivar, mit dem ich sprach, ein verlogener Glatzkopf.
Sie kennen ihn?«
Die
Frage richtete sich an den Fürsten, der jetzt
mit mir in den dunklen Gang trat. Giovanni del
Drago nickte.
»Sie
haben fast alles vernichtet, was es an verräterischen
Dokumenten gab, schon früher, teilweise vor
Jahrhunderten die würdigen Kardinäle,
die ernsten Bischöfe, der von seiner Mission
erfüllte Papst. Wer will schon gerne an die
mörderischen Jahrzehnte der sogenannten Hurenherrschaft
erinnert werden, die über tausend Jahre zurückliegt.«
Als
wir uns verabschiedeten, senkte der Führer
seine Stimme: »Im Vatikan gab es schon immer
Verschwörungen zur Unterdrückung der
Wahrheit, bestochene Lohnschreiber und Geschichtsfälscher.
Erwähnen Sie bitte nie meinen Namen! Ich
hätte Ihnen nicht einmal diese Verliese zeigen
dürfen.«
»Nun,
was sagen Sie?« fragte Giovanni del Drago,
als wir, gebeugt über die Brüstung der
Engelsbrücke, unsere Blicke auf dem träge
und schmutzig dahinfließenden Tiber ruhen
ließen.
Wollte
mir der Fürst eine neue story unterbreiten?
Oder warum hatte er diese Privatführung organisiert?
Marozia, die schöne, die leidenschaftliche
Papstmacherin aus den höchsten römischen
Adelskreisen, die mächtigste Frau Italiens
im ersten Drittel des zehnten Jahrhunderts
war sie nicht in der Engelsburg, im Grabmal des
römischen Kaisers Hadrian, aus der Geschichte
verschwunden? Jeder wußte, was diese Formulierung
der Historiker bedeutete.
Oder
hatte der kriminalistische Spürsinn des fürstlichen
Amateurarchäologen del Drago, der offensichtlich
über weitreichende Kontakte verfügte,
etwas entdeckt, was verborgen bleiben sollte,
weil es ein neues Licht auf das dunkle Jahrhundert
der Kirchengeschichte warf?
»Mir
wurde ein altes Manuskript zugespielt«,
erklärte er nicht ohne Stolz. »Irgend
jemand wollte die Wahrheit retten, verstehen Sie?
Die Wahrheit über das dramatische Leben der
Marozia, von Aglaia, ihrer treuen Sklavin, aufgeschrieben.
.
So lautet der Erkennungscode, den wir in dem Manuskript
und auch im Kerker der Engelsburg fanden, Aglaias
Losung und Lebensphilosophie.« Er malte
sorgfältig die griechischen Buchstaben mit
dem Zeigefinger auf den Staub der Brüstung,
und als er mich anschaute, blitzte in seinen Augen
Begeisterung auf. »Endlich ein Zeugnis,
das nicht von einem leib- und frauenfeindlichen
Geistlichen verfaßt wurde, sondern von einer
lebensklugen, leidensfähigen und wahrhaft
starken Frau.«
Erster
Teil
Das
Rätsel der Sphinx
1
Wie
konnte all dies nur geschehen?
Vor
wenigen Augenblicken mußte ich Marozia noch
tröstend in den Arm nehmen. Selten habe ich
sie weinen gesehen, nun forderten Unsicherheit
und Angst ihren Tribut. Während die Tränen
flossen, schüttelte sie den Kopf. Sie wollte
nicht begreifen, wie sich unser Leben innerhalb
weniger Stunden geändert hatte. Gestern noch
fühlte sie sich, die Herrin Roms und die
Mutter unseres Papstes, als mächtigste Frau
Italiens und zukünftige Kaiserin, heute liegt
sie gestürzt und gedemütigt, geschlagen
und voller Schmutz im tiefsten Kerker der Engelsburg.
Gestern prunkte sie noch im dunkelglühenden
Ornat ihrer Hochzeitsfeier, an der Seite eines
Königs, der dabei war, Kaiser zu werden,
gestern zeigte sie sich noch entschlossen, Italien
zu einen, die brandschatzenden Ungarn endgültig
zu vertreiben und den Sarazenen den Mut zu nehmen,
über unsere Küsten herzufallen, heute
sieht sie sich von einem rachsüchtigen Gott
in eine dunkle Tiefe gerissen, aus der es keinen
Ausweg zu geben scheint.
Langsam
beruhigte sich Marozia wieder, legte sich auf
eine der mit schmutzigem Stroh bedeckten Holzpritschen,
starrte an die niedrige Decke. Ihre Lippen wurden
schmal, ihre Zähne knirschten vor erneut
hervorbrechender Wut. Dann schloß sie die
Augen, und die Wut in ihrem Antlitz verwandelte
sich in Verzweiflung.
»Warum
nur?« flüsterte sie. »Aglaia,
sag mir: Warum?«
Was
sollte ich darauf antworten! Wußte ich denn,
warum ein nichtiger Anlaß solch schreckliche
Folgen nach sich ziehen und ihre Hochzeit mit
König Hugo wie ein Alptraum enden mußte?
Es war, als hätte der Flügelschlag eines
Schmetterlings einen Sturm hervorgerufen.
Sie
seufzte, und eine letzte Träne quoll unter
den geschlossenen Lidern hervor.
Eine
Weile wanderte ich durch unser Verlies und ließ
mich schließlich auf der zweiten Pritsche
nieder, warf einen Blick auf Marozia, die wie
eine marmorne Grabfigur ihrer selbst dalag, stumm
und kraftlos, doch nicht ohne Stolz und Würde.
Ich starrte an die schimmlige Wand, als könnte
ich dort eine Antwort finden.
Die
Hochzeitsfeier in der Engelsburg, in diesem uralten
Mausoleum, zog quälend langsam vor meinem
inneren Auge vorbei. Schon sie war ein Sakrileg,
das nach Strafe schrie. Alberico, Marozias zweitgeborener
Sohn, betrat den Raum, bewegte sich mit gezirkelten
Schritten auf König Hugo, seinen Stiefvater,
zu. Hugo brach in höhnisches Gelächter
aus, und Albericos schritt zur sorgfältig
geplanten Tat. Am meisten hat sich mir sein haßerfüllter
Blick eingeprägt, den er, bevor er den Raum
verließ, auf Stiefvater und Mutter warf.
Am nächsten Morgen gestern!
geschah dann, was niemand erwartet, ja, auch nur
für möglich gehalten hatte und was uns
schließlich in diesem stinkenden, stickigen
und feuchten Kerker enden ließ.
Warum
muß Alberico uns so bestrafen? Hätte
es nicht gereicht, König Hugo in Fesseln
zu legen? Weiß Alberico nicht, daß
er mit seiner Tat eine Spirale der Gewalt in Gang
setzt, in der einer untergehen muß: seine
Mutter oder er?
Ich
verstehe nach all dem Demütigenden, das er
während der letzten Tage ertragen mußte,
seinen Zorn, ich verstehe auch die Verletzungen,
die er seit seiner Kindheit hat erleiden müssen
doch warum geht er so weit, alle Brücken
der Verständigung abzubrechen? Niemand weiß
besser als ich, daß er um die Liebe seiner
Mutter kämpfte, daß er hinter seinem
Bruder Giovanni zurückstand, dem Erstgeborenen,
der auf Marozias Betreiben hin zum pontifex maximus
gewählt wurde, während er auf das Erbe
seines Vaters bis heute wartet.
Eins
ist sicher: Wir alle haben ihn unterschätzt.
Seinen Willen, seine Kraft und auch die Entschlossenheit
seiner Anhänger.
Marozia
öffnete wieder die Augen, als hätte
sie nur kurz nachgedacht, und erklärte in
die Stille des Kerkers hinein: »Er muß
uns freilassen. Hugos Heer liegt vor den Mauern
der Stadt und wird sie stürmen, wenn der
König nicht bald zurückkehrt. Seine
Soldaten werden sich furchtbar rächen, Alberico
wird einen grausamen Tod erleiden ...«
»Roms
Mauern sind hoch und stark bewehrt«, entgegnete
ich.
Marozia
richtete sich auf und starrte mich verärgert
an.
Ohne
die Ruhe zu verlieren, ergänzte ich noch:
»Vielleicht hat Alberico sogar den König
umbringen lassen.«
Sie
sprang abrupt auf und durchschritt unsere Zelle
wie eine eingesperrte Löwin. »Selbst
wenn Hugos Männer Rom nicht erobern, können
sie die Stadt aushungern«, rief sie gegen
eine der Wände.
»Bevor
die Stadt ausgehungert ist, lebt keiner mehr von
uns.«
...
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