Es
war die Nacht zum ersten Mai. Beate Reich entstieg
in Aix-en-Provence dem Zug und machte sich,
da kein Taxi zu sehen war, in einer Stimmung
aus Entschlossenheit und Übermut auf den Weg
nach Paradou. Die zwölf Kilometer Fußmarsch
über die Route Cézanne schreckten sie nicht.
Hamburg hatte sie zurückgelassen, von den erloschenen
Augen ihres Kindes wollte sie endgültig Abschied
nehmen und einen Neuanfang suchen.
Paradou, am Rande der kleinen Gemeinde Beaurecueil
gelegen, war der Garten ihrer Kindheit. Eine
Nachtigall, geschützt im dichten Ginsterbusch,
hatte trotz des Sturms zu singen begonnen, eine
zweite folgte ihr auf dem Hügel, der Paradou
überragte. Auf diesem Hügel hatte Beate zum
erstenmal Jacques geküßt. Eingerahmt von verwilderten
Rosensträuchern, umgeben vom Thymianduft, Rosmarinnadeln
zwischen den Fingern, saßen sie im Schatten
der Pinien, ließen, schweigend, erregt und verwirrt,
ihren Blick wandern über die stummen Felshieroglyphen
der aufragenden Sainte-Victoire.
Beate erreichte mitten in der Nacht den Hügel
und beschloß, trotz des eisigen Winds die Stunden
bis zum Morgen auf der blanken Erde zu verbringen.
Sie kroch in ihren Schlafsack und betrachtete
durch den Rahmen der schwarzen Äste den schimmernden
Berg. Auf dem Kamm, genau im Felseinschnitt
des Saut du Diable, blinkte ein Licht. Dort
oben hatte sie ihre Unschuld verloren, dort
oben hatte der Unglücksweg begonnen, auf dem
Jacques und sie eine Weile taumelten. Das Licht
blinkte wie eine mahnende Erinnerung an das
Vergangene und gleichzeitig wie ein ermutigendes
Zeichen des Empfangs: Sie mußte all das Bedrohliche
und Bedrängende ihres bisherigen Lebens hinter
sich lassen, ein gesundes Kind auf die Welt
bringen und es hier in ihrem Paradou, unter
dem lächelnden Himmel der Provence, aufziehen,
bis es stark genug war, die Gefährdungen des
Lebens zu bestehen.
Als sie die Träne abtrocknete, die ihr über
die Wange gelaufen war, hörte sie, mal weiter
entfernt, mal näher, ein vielstimmiges Hundegebell,
das der Mistral immer wieder verschluckte. Als
der Wind kurz nachließ, näherte es sich dramatisch,
und bevor sie sich besinnen konnte, war sie
von einer Hundemeute umringt und hörte nun auch
die rufende Stimme einer Frau. Trotz ihres zähnefletschenden
Knurrens wedelten die Hunde mit dem Schwanz.
Begütigend sprach sie auf sie ein, und ein Altersgrauer
leckte ihr die Hand. Plötzlich war die Stimme
ganz nah, eine Frau rief verzweifelt "Komm zurück,
Jacques, komm zurück!". Beate suchte in dem
Schattengewirr der Büsche nach dem Menschen,
der da rief. Es konnte nur Simone Bernard sein,
die Nachbarin, Jacques' Mutter.
Schon stand die alte Frau vor ihr und starrte
sie an.
"Simone - ich bin es, Beate, erkennst du mich
nicht mehr?"
Sie mußte sich der Hunde erwehren und erhob
sich.
"Ich bin Beate!" rief sie ein zweites Mal und
wollte die alte Frau umarmen.
Aber diese wich, die Augen aufgerissen, zurück,
packte sie an den Schultern und schüttelte sie
mit verzweifelter Kraft.
Eine panikartige Angst überfiel Beate, ein Entsetzen
vor diesem wilden und kranken Wesen.
"Wo ist dein Bruder?"
Beate versuchte sich zu befreien.
"Du hast ihn auf dem Gewissen!" schrie die alte
Frau.
"Jacques ist nicht mein Bruder, wir waren Spielkameraden,
Freunde, früher ... Ich bin die Tochter von
Hartmut und Luise Reich."
Die alte Frau hob die Hand, als wollte sie sie
schlagen. "Ich kenne dich", schrie sie weiter,
"du Hexe!"
Beate sprang zurück, der drohend erhobene Arm
fiel leblos nach unten.
"Wo ist dein Vater?"
Hilflos zuckte Beate mit den Achseln. Gleichzeitig
verstärkte sich die Panik. Im Spiel der dunklen
Schatten erschien ihr das Gesicht der Frau ohne
menschliches Maß, wie eine drohende Maske.
"Dein Vater!"
"Er wird schlafen, Simone, es ist Nacht."
"Er muß dafür bezahlen, was er mir angetan hat,
ihr müßt alle dafür bezahlen."
Der Mistral zerrte an den weißen Haaren der
Frau, die Hunde sprangen unruhig an ihr hoch.
"Du hast Jacques entführt!"
Beate merkte, wie Simone sie zum Abhang des
Hügels drängte. Ein Schritt zurück, und sie
würde stürzen. Simone war nicht die erste Verrückte,
der sie begegnete. Ganz ruhig, beruhigend ...
"Dein Sohn ist bei der Fremdenlegion, das mußt
du doch wissen, Simone, weit weg ..."
"Du hast ihn entführt."
Einen Augenblick dachte Beate: Sie ist gar nicht
verrückt. Sie spielt dir etwas vor. Sie weiß
genau, was sie dir sagen will.
Erneut stürzte sich die alte Frau auf sie und
versuchte sie zu würgen. "Du hast ihn verführt!"
"Im Gegenteil, er hat mich ... mit Gewalt ...",
preßte Beate hervor.
Simone ließ sie los. Der sich erneut verstärkende
Sturm drückte die Äste zur Seite und ließ den
Widerschein des Mondes voll auf ihr Gesicht
fallen.
"Was glaubst du denn", rief Beate, "frag ihn
doch, deinen Jacques!"
Simone trat zurück.
"Wo ist er? Warum ist er nicht hier?"
Hatte Simone wirklich nie begriffen, daß sie
selbst ihren Sohn vertrieben, ja, zerstört hatte?
"Er ist vor dir geflohen!"
Wie von einer vernichtenden Erkenntnis getroffen,
starrte die alte Frau sie an und stürzte mit
einem gequälten Schrei davon.
"Jacques!" hörte Beate sie rufen, doch rasch
übertönte der Mistral ihre Stimme. Die Hunde
folgten ihr. Ein grauer blieb zwischen zwei
Büschen stehen und blickte zurück. Dann verschwand
auch er, wie die anderen, als hätte es ihn nie
gegeben.
Beate schaute auf den von scharfen Lichtschnitten
durchzogenen Garten, der Simone und ihre Hunde
verschluckt hatte. Zitternd ließ sie sich auf
den Boden gleiten. Das Heulen des Winds übertönte
alles. Als der Mistral kurz aussetzte, als müsse
er Atem holen, setzte der Gesang des Vogels
von neuem ein - und plötzlich fiel, kurz und
zerfetzt, ein Schuß. Beate wollte ihren Ohren
nicht trauen. Kein brechender Ast - ein Schuß,
ohne Zweifel, ganz in der Nähe. Vor ihr tanzten
die Schatten im Sturm, die blendende Scheibe
des Monds stand wie ein abweisender Fluchtpunkt
im leergefegten Himmel. Sie lauschte, ob vielleicht
ein zweiter Schuß ... aber nichts ... nur das
Heulen des entfesselten Mistrals.