Da
sehe ich Mutter, hochschwanger, mit ihren drei
Mädchen auf einem Frühlingsacker stehen,
das jüngste an der Hand, mit einem weißen
Taschentuch winkt sie den in einen Zug gepferchten
Männern zu und entdeckt schließlich
in einem der Fenster den eigenen. Einer der Bewacher
wendet sich ab, sie stolpert mit den Kindern zu
dem Waggon, Tränen, hilfloses Stammeln, bis
sie wieder weggeschoben wird und der Zug schließlich
in der Ferne verschwindet.
Ein
paar Monate später, abends während der
Sperrstunde, auf der Wohnzimmercouch, eine Sturzgeburt
-: bevor Arzt und Hebamme erscheinen konnten,
lag ihr Jüngster schon auf dem Laken und
schrie.
Ich
kann noch einen Schritt zurückgehen: Der
Untergang eines Reiches steht bevor, keine Nacht
und kein Tag ohne Bomberschwärme am Himmel,
und eine schon zweiundvierzigjährige Frau
fühlt sich wieder schwanger werden. Vom Mann
seit Monaten keine Nachricht mehr. Vielleicht
ist er tot. Da sitzt sie vor ihrem Schwager, der
am Ort ein Lazarett leitet, und weint. Er aber
lacht. Wo liegen die Probleme? Sie ist gesund,
und das Sterben wird irgendwann aufhören.
"Natürlich bekommst du das Kind!"
"Ja,
du hast recht", sagt sie.
Diese
Geburt teilt ihr Leben in zwei gleiche Teile,
sie stirbt einen Tag, bevor sich die Geburt zum
zweiundvierzigsten Male wiederholt. Aber sie nimmt
nicht mehr wahr, was sich da jährt. Die erfolglosen
Kämpfe gegen lebensverlängernde Maßnahmen,
vor allem aber diese Maßnahmen selbst bestimmen
ihr letztes Jahr. Der Schmerz hat längst
die Herrschaft über sie ergriffen. Aber wenigstens
eine letzte Minute der Helligkeit ist ihr vergönnt.
Plötzlich schmeckt ihr wieder der Morgenkaffee,
sie möchte ein Brot, will sich aufsetzen.
Doch dann sinkt sie zurück.
Die
Euphorie des aushauchenden Lebens hat ihr das
Verlöschen leicht gemacht, dennoch ist keine
Verklärung angebracht. Das Krankenhaus besitzt
zwar eine Kapelle, aber keinen Raum für die
Toten. Mutter wird in einer freigeräumten
Garage aufgebahrt, wo ich sie, fünf Autofahrtstunden
später, noch einmal sehen darf. Der Anblick
einer Toten prägt sich mit einer schamlosen
Nacktheit ins Gedächtnis. Die Qual des letzten
Jahrs ist von ihrem Antlitz gewichen, aber die
Versöhnung noch nicht wieder da.
Dabei
war Versöhnung eines der Leitthemen ihres
Lebens: Ausgleich, Optimismus, immer die gute
Seite sehen und verstehen wollen. Das, was sie
"Schicksal" nannte, wollte sie akzeptieren,
und daher betrachtete sie den Tod nie als Bedrohung:
Er rundet nur ab und führt zurück in
eine Freiheit ohne Schmerz. Aber der Tod kennt
am wenigsten von allen Mächten Gerechtigkeit,
und so war ihr Ende Freiheitsberaubung mit Schmerz.
Der
Abschied erfährt durch Tod und Begräbnis
nur das offizielle Siegel. Er beginnt schon, bevor
der Sarg, bedeckt mit letzten Blumen, sich in
die Erde senkt, und endet keineswegs, wenn der
Grabstein den Namen der Toten trägt.
Spätestens
wenn ein Mensch, der sein Leben lang andere gepflegt
hat, selbst gepflegt werden muß, wird die
Abschiedsstunde eingeläutet. Eine neue Wirklichkeit
zerstört den Rest an Würde: Knochenbrüche,
Bluttransfusionen, Krankenhausaufenthalte, Gedächtnisschwund.
Zum Schluß auch noch das endgültige
Zerschlagen der Schambarrieren. Vielleicht hat
Mutters langsamer Rückzug aus der sie umgebenden
Wirklichkeit ihr noch einmal das Eintauchen in
die goldenen Stunden ihres Lebens ermöglicht:
die rauschenden Jahre nach ihrer ersten Hochzeit
im Jahre 1925, die glücklichen Stunden, als
sie endlich, in ihrer zweiten Ehe, Mutter wurde.
Dazwischen lag die Meßlatte des Todes: Sie
verlor die nächsten Menschen, unerwartet,
viel zu jung und ohne die Möglichkeit des
Trosts.
Vielleicht
waren es gerade diese Erfahrungen, die ihren unerschütterlichen
Optimismus vertieften. Ein paar Jahre lang hatte
ihr Leben hauptsächlich aus Klavierspielen
und Festefeiern, Kuren und Reisen bestanden, aber
dann zerschlug die Wirtschaftskrise ihre bourgeoisen
Attitüden, und das "Schicksal"
nahm ihr den Mann. Die verarmte Witwe lernte einen
Beruf und verdingte sich als Säuglingspflegerin
und Kinderfrau. "Lerne leiden, ohne zu klagen",
dieser Spruch hing immer eingerahmt an der Wand
ihres Zimmers.
Der
Mensch wird immer wieder neu geboren. Tatsächlich
glaubte sie an eine nicht näher erläuterte
Form der Seelenwanderung und Wiedergeburt. Sie
glaubte auch an eine christliche Religiosität,
die mit den Namen Albert Schweitzer verbunden
ist. Viele seiner Bücher standen im Mittelteil
ihres großen Mahagoni-Schrankes, der noch
aus ihrer ersten Hochzeitsausstattung stammte,
vor den Bücherrücken ein würdiges
Bild des Denkers und Wohltäters, und daneben
ein Bild von Marion Gräfin Dönhoff.
Warum Mutter diese Frau so tief verehrte, konnte
sie selbst nicht recht erklären. Vielleicht,
weil auch die Gräfin aus einem frühen
glanzvollen oder doch zumindest glücklich
behüteten Leben vertrieben wurde und ein
neues, tätiges Leben ganz von unten aufbauen
mußte. Weil sie sich mit Worten und Gedanken,
in denen sich meine Mutter wiederfand, in die
Politik einmischte. Weil sie, wie ihre Bewunderin
wohl meinte, ganz einfach eine tapfere Frau war.
Dies
ist eins der intensivsten Erinnerungsbilder: Mutter
steht vor ihrem Schrank, hinter ihr der durchdringend-gütige
Blick von Albert Schweitzer. In dieses Bild weben
sich die Erinnerungen aller Sinne. Nie wird ein
Kind, und mag es noch so alt werden, den Geruch
der eigenen Mutter vergessen, auch wenn die Muttersprache
dafür keine Worte bereitstellt und der schale
Kunstname eines Parfüms nur etikettieren
würde, was unübersetzbar und unaufhebbar
bleibt. Deutlicher schon ist ein Geschmack zu
fühlen, wenn er die Zunge berührt: Aus
hundert Salaten würde ich sofort denjenigen
herausschmecken, den meine Mutter zubereitet hat.
Saure Sahne, Dill und Petersilie, Salz und Zucker.
Daran ist nichts Besonderes, auch an der Mischung
nicht, und doch sehe ich Mutter sofort in ihren
weißen Haaren vor mir, mit der Aufforderung:
"Junge, nun iß anständig!"
Kräftig, meinte sie, und vermittelte gleichzeitig:
mit Anstand. Vielleicht schwang auch hier ihre
Lebensphilosophie mit.
Noch
deutlicher als Geruch und Geschmack ist aber der
Klang. Sie trug zeit ihres von mir erinnerbaren
Lebens ein Goldarmband mit Gelenken, die von schwarzem
Onyx überzogenen waren, und dieses Armband
klickte und klirrte ganz eigentümlich weich.
Der Klang ruft sie sofort herbei. Wie sie sich
zum Ausgehen bereit macht, wie sie den Arm hebt,
um die Kaffeetasse zum Mund zu führen, mit
der Dame Schach zu bieten oder einem ihrer Enkel
über den Kopf zu streichen. Als sie dann
starb und ihr Schmuck unter den Kindern verteilt
wurde, wünschte ich mir dieses Armband, das,
von häufigen Tragen sehr fragil geworden,
nun gelegentlich den Arm meiner Frau schmückt.
Wenn wir ausgehen und sie sich, zum Beispiel,
in den Mantel helfen läßt, dann höre
ich sie.
Endgültig
und nicht mehr zu leugnen drängte ihr Sterben
ins Bewußtsein, als ihre weißen Haare
sich nicht mehr in Wellen legen ließen,
als ihre Arme kein Armband mehr zierte, sondern
von Einstichwunden und Blutergüssen entstellt
waren. Am deutlichsten aber kündigte sich
der Tod an, als er ihr ihren Geruch nahm. Dies
geschah nicht langsam, sondern plötzlich,
wenige Monate, bevor ihr Herz stillstand. Nach
einem Besuch beugte ich mich zu ihr herunter und
gab ihr einen Abschiedskuß: ich spürte
ihre faltige Haut, fühlte ihre schwache Hand,
aber ich roch sie nicht mehr. Ich roch, wie etwas
Fremdes, Bedrohliches sich ihrer bemächtigt
hatte, und wußte, sie würde nicht mehr
lange leben.
Mit
dem Begräbnis enden weder die Erinnerungen
noch die inneren Bindungen. Mutter sitzt am Fenster,
in ihrem hohen Sessel, und legt Patiencen. Mit
geübten Griffen entfaltet sie die Kartenreihen
und sinnt über Möglichkeiten einer Lösung.
Oder sie macht sich an ein Puzzle mit tausend
Einzelteilen. Später sitzt sie unter der
Tischlampe und versucht, vertrackte Kreuzworträtsel
zu lösen. Utta Danellas Romane sprechen sie
besonders an, und sie schwärmt von den lebensnahen
Frauenschicksalen, in denen sie sich selbst gespiegelt
findet. Dann wieder werden Briefmarken eingesteckt.
Am liebsten aber blättert sie in den alten
Fotoalben, die sie im Lauf der Jahrzehnte angelegt
hat, akribisch geordnet und sauber beschriftet.
Und bevor sie dann ins Bett geht, führt sie
noch ihr Tagebuch oder schreibt Briefe an alte
Freundinnen, von denen nur noch wenige leben,
oder an ihre Kinder. Ihre Handschrift ist rund
und weich, ohne Kanten und Spitzen, ohne Schnörkel
und Verzerrungen, sie ist beruhigend gleichmäßig,
fast wie gedruckt, aber ohne zwanghaft oder einstudiert
zu wirken. Auch in ihrer Handschrift lebt sie
weiter.
Eine
Mutter ist so sehr Teil des eigenen Selbst, daß
ihr Tod, auch wenn er sich schon lange angekündigt
hat, wie eine Amputation wirkt. Das ist ein krudes
Faktum, gegen das man sich nur mit stärksten
Drogen wappnen kann. Ein letzter Blick noch, bevor
der Sarg endgültig verschlossen wird: Sie
antwortet nicht mehr und ruft damit alle Ängste
des kleinen Kindes wieder wach. Jetzt ist die
Kluft am größten, in diesem Moment
übermannt uns die Trauer. Doch schnell läßt
das Marionettenspiel eines Begräbniszeremoniells
unsere Masken erstarren, und wir brauchen Wochen
und Monate, bis die Gefühlsleere sich wieder
füllt und die Bilder erneut zum Vorschein
kommen.
Meine
Mutter bleibt für mich eine Kindermutter.
Ich erinnere sie als tröstende Stimme, als
sorgenvoller Blick, aber auch scheltend, mit tiefer
Falte zwischen den Augen. Gar nicht so selten
rutschte ihr die Hand aus, wenn der Streit zwischen
den Kindern ihr heiles Weltbild strapazierte.
Oder sie probte den Liebesentzug, indem sie sich
schweigend und mit düsterer Schwermutsmiene
abwandte. Aber lange hielt diese Stimmung nicht
an. Am ehesten konnten wir sie auf unsere Seite
ziehen, wenn Krankheiten uns plagten und es galt,
Leid zu teilen. Dann fühlte sie sich in ihrem
Element. Oder wenn sie die gute Fee spielen durfte,
Weihnachten zum Beispiel. Dann zauberte sie aus
dem ganzen Arsenal deutscher Heilige-Nacht-Seligkeit
ein Fest, angefüllt mit Tannennadelduft,
brennenden Kerzen im Widerschein der Mozartkugeln,
mit Lametta und Plätzchen, Johann Sebastian
Bach und familiärer Harmonie.
Söhne
idealisieren gern ihre Mütter. Je älter
sie werden, desto strahlender glänzt das
Bild einer Heiligen, Sanftmut in den Augen und
in den Armen das Kind. So kennen wir Maria, das
Urbild. Aber natürlich liegt hier nur ein
Teil der Wahrheit. Wie oft überbrückt
die gegenseitige Liebe einen Abgrund an Leere?
Kann die Mutter den Mann in ihrem Sohn verstehen,
und fühlt sich dieser nicht erstickt von
einer unangreifbaren Fürsorge? Und da ist
natürlich auch der Vater. Ein Dreieck entsteht
mit selten (oder häufig?) niedergeschriebenen
Dramen an Verrat. Jeder verrät jeden, und
je mehr Rollen in dem Familienstück hinzukommen,
desto undurchsichtiger wird die Intrige. Mutter
hat sich den Part der guten, gütigen Heldin
zugelegt, und niemand wird wagen, ihn ihr streitig
zu machen. Also spielen wir das Spiel, bis wir
selbst daran glauben.
Wie
nahe standen wir ihr wirklich? Als sie schon betagt
war, wollten wir sie noch näher kennenlernen.
Und sie kam uns entgegen, ein Stück. Sie
erzählte uns von einem Leben, in dem sich
weder Haß noch Neid noch Niedertracht ausbreiten
konnten. Und immer siegte, wenigstens moralisch,
das Gute. Was destruktiv war, prallte an ihr ab.
Sie leugnete es nicht, widerstrebend. Aber sie
behielt ihre Reinheit. Gegen das Böse kämpfte
man nicht, man duldete und siegte gerade durch
die Duldung. Der Schwache ist in Wahrheit der
Starke. Ihn kann nichts anfechten.
Wir
spürten den unerfüllbaren Anspruch und
fühlten uns wie Versager. Je weniger es uns
gelang, dem Maß ihrer moralischen Integrität
gerecht zu werden, desto mehr hielten wir sie
für weltfremd, verstrickt in ihr Glaube-Liebe-Hoffnung-Gespinst.
Sie thronte über uns und verstand nicht,
mit was wir uns quälten - oder zu quälen
vorgaben. Wir kämpften, aber sie war schon
am Ziel. Gefühle teilten sich für sie
in Licht und Dunkel, und selbstverständlich
umstrahlte sie ein sanftes Licht. "Freust
du dich denn überhaupt, daß ich euch
besuche?" fragte ich sie einmal. Sie schaute
mich verständnislos an und antwortete: "Aber
natürlich!" und legte dann weiter Patiencen.
Zuweilen
schien in der Entfremdung die Wahrheit der Gefühle
zu liegen. Aber der Tod, der endgültig trennt,
kann auch zusammenführen. Nach Jahren wird
die Liebe wieder vom Zweifel befreit. Das Bild
der Mutter widersteht dem Vergessen, das ist ein
Trost.
(1990)
|